Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (274-11034)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

08. 12. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Lerch, Eugen Gamillscheg, Ernst Gilliéron, Jules Jaberg, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Ettmayer, Karl von Scheuermeier, Paul Gartner, Theodor Österreich Bonn Wien Scheuermeier, Paul (1920)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (274-11034). Bonn, 08. 12. 1920. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2104, abgerufen am 06. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2104.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 8. XII.

Verehrter Herr Hofrat,

Dank für Ihren Brief. Also auch in Österreich Wohnungskommissionen. Hier sind sie gewöhnlich vom Hausherrn bestochen, der höhere Miete erzielen will. Da Sie selbst Hausherr sind, brauchen Sie das Bündnis mit der Behörde nicht. Sie würden Ihr Jugend-Bonn wohl nicht wiedererkennen!

Billets de louange – nein. "Ich wollte Urteil, nicht Lob", sagt irgendwo Goethe. Nun geben Sie ja ein solches – daß ich Militarist bin – aber gerade das ist mir so unangenehm wie möglich. Wenn Sie Lerch oder Gamillscheg als das bezeichnen, pazienza. Aber mich, den Unabhängigen, der jeden leben lassen will, sofern er nicht das genre ennuyeux betreibt? Ferner ist doch das Klassifizieren etc. die Arbeit eines sehr friedlichen Berufes – nämlich des Literarhistorikers. Ich suche bei wissenschaftlichen Leistungen stets die menschliche Seite, der sie entquellen, und lobe oder tadle oder charakterisiere – nur das letztere war bei Ihnen gemeint – jemanden ob diese zur Bereicherung oder Verarmung der Menschheit etwas beiträgt. Gewiß, ich kann |2|die Persönlichkeit des Schaffenden vom Geschaffenen nicht trennen. Ich möchte so weit gehen, zu sagen: die Etymologie, die von einem engbrüstigen Geist gefunden ist, ist falsch – auch wenn sie zufällig richtig ist. Das ist auch der Grund, warum mich die Urteile meiner Nebenmenschen über mich auch so enttäuschen: Schien den Nachbarn nicht die Flamme des Menschlichen, die in mir – wie ich glaube – lodert? Aber die Nachbarn untersuchen nur die verglommenen Späne und die tote Asche.

Die Formel "blendend und erschöpfend" – n'est pas encore ça. Da sind so verschiedene Untertöne zu hören, wie "ja, geistreich schon, aber nicht tief", "entsetzlich produktiv", "er hätte das kürzer machen können" usw.

Ich komme nicht darüber hinweg, daß der, der große Räume überspannt wie Sie, und der der nur das Lokale und Mikroskopische bearbeitet wie Gilliéron, toto coelo verschiedene Naturen sind. Daher meine ich: Sie = Historiker (Genetiker), Gilliéron = Geologe (auch historisch, aber mehr geographisch). Daß Sie nicht Geograph seien, ist kein "Vorwurf", sondern wieder eine literarische Feststellung. Vor kurzem bezeichnete JabergM-L als "Realisten". Das ist ganz ähnlich: M-L|3|faßte es als literarische Charakteristik, andere vielleicht als Tadel.

Die Anmaßung Lerchs übersteigt alle Grenzen. Ein Mann, der eine Sprache und diese nicht einmal besonders gründlich kennt, der von Sprachwissenschaft keine Ahnung hat, weil er vornehm immer in den Pariser seichten Gewässern pritschelt, gibt mir hochmütig begönnende Ratschläge. Wer eine derartige Ignoranz zeigt wie L. in seiner Einf. ins Altfrz., hat sich selber zu raten.

Punkto Ignoranz fällt mir wieder Freund von Ettmayer ein, der tre ora 'drei Stunden' als Plural (von *horum??) faßt. Aber natürlich, Professor in Wien, Mitglied – ah nein, aber kommt schon einmal – der Akademie.

Sehr hübsch die Arbeit von Scheuermeier. Eine gediegene wortgeschichtl. Untersuchung!1

Bitte, wenn Sie einmal von irgend etwas Duplikate haben, erinnern Sie sich bitte an mich: man kann sich jetzt nicht mehr auswärtige Literatur kaufen. Besser als in den Papierkorb wandert es dann noch immer zu Ihrem ergebenen

Spitzer

Könnten Sie mir bitte Gartner's Bozener Adresse mitteilen?


1 Paul Scheuermeier, Einige Bezeichnungen für den Begriff Höhle in den romanischen Alpendialekten. Ein wortgeschichtlicher Beitrag zum Studium der alpinen Geländeausdrücke. Halle a.S.: Niemeyer 1920.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11034)