Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (250-11009)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
15. 06. 1920
Deutsch
Schlagwörter: Allgemeiner Deutscher Sprachverein Französisch
Italienische Dialekte
Italienisch
Spanisch Balassa, József Gauchat, Louis Kammerer, Paul Vossler, Karl Riegler, Richard Schuchardt, Hugo (1920) Güntert, Hermann (1919) Foerster, Wendelin/Koschwitz, Eduard (Hrsg.) (1884) Schuchardt, Hugo (1918)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (250-11009). Pörtschach, 15. 06. 1920. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2080, abgerufen am 10. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2080.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach, 15. VI.
Verehrter Herr Hofrat,
Dank für die tiefsinnige Abhandlung,1 die ich noch oft lesen werde. Mit dem Hinauswurf des Objekts bin ich sehr einverstanden.
Kleine Randglossen:
Anm. 1 auf S. 449 widerlegt, was Balassa als Ihre Ansicht im letzten Nyr. darstellt. Der Imperativ ist tatsächlich die Normalform des Verbs, vgl. meine "Aufsätze", in denen das noch für moderne Zeiten u. Sprachen klargelegt wird.
S. 449 unten: ich freue mich über die Parteinahme contra Sprachverein (der über le Reich allemand sehr kleinmütig geantwortet hat!).
|2|S. 451 So ist Hunger ein Zustandswort. Sehr richtig: in schweiz.- frz. Dialektbelegen, die mir Gauchat für mein Hungerbuch mitgeteilt hat, finden sich sehr wenig Ausdrücke für 'Hunger', dagegen sehr viele für 'ich habe Hunger'. Ebenso in ital. Dial.
S. 452 homo sapicutissimus – Stileinfluß Kammerers?
S. 454 Anm.: das ich bin ein Jude der Schauspieler erklärt sich aus einem Bestreben, keine den Satz zu sehr unterbrechenden, abnormal gestaltenden Betonungen zu dulden. Meine Pflegemutter, eine einstige Hofburgschauspielerin, duldete nie derartige gewaltsam aufrüttelnde Betonung, die mir gerade besonders wirksam schien.
S. 455 Anm. 3: ich meine in Wirklichkeit dasselbe wie Sie 'Unlogik' ist nicht glottogonisch, sondern deskriptiv-logisch genommen.
|3|S. 460 Die Verwendung von p und g ist ganz geläufig in den ital. Kriegsgefangenenbriefen gewesen. – In der Physik sagt man statt nach 'rechts' und 'links' zur Vermeidung von Unklarheiten 'im Sinn des Uhrzeigers' etc.
Kennen Sie Güntert's Kalypso?2 Ein schönes Buch! Endlich einmal ein Indogermanist, der nicht die Lautlehre abklappert. Übrigens werde ich widerlegt, wo Sie gemeint sind – eine ehrenvolle Verwechslung, jedenfalls ehrenvoller als die mit Leo Wiener in Förster-Koschwitz' Übungsbuch:3
Kontamination: Leo Spitzer Wien
+ Leo Wien – er
= Leo Wiener
|4|In welchem Sinne haben Sie mich bitte Vossler gegenüber erwähnt?4
Haben Sie sp. cocóra 'giftig, böse' in Ihren Rom. Lehnw. im Berber.5 behandelt? Es schwant mir so, vielleicht aber fälschlich.
Mein bestelltes Exemplar von "Wissen und Leben" ist endlich eingetroffen. Ich habe es Rigler überlassen, der sich mit Heißhunger darauf gestürzt hat.
Ergebenste Grüße
Spitzer
1 H.S., "Sprachursprung III", in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1920: 448-462.
2 Hermann Güntert, Kalypso. Bedeutungsgeschichtliche Untersuchungen auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen. Halle a.S.: Niemeyer 1919.
3 Wendelin Foerster und Eduard Koschwitz (Hrsg.), Atlfranzösisches Übungsbuch zum Gebrauch bei Vorlesungen und Seminarübungen. Heilbronn: Henninger 1884.
4 In einem Brief vom 4. Juni an Vossler bemängelt Schuchardt, daß Spitzer u.a. wegen des herrschenden Antisemitismus bei den Stellenbesetzungen nicht zum Zug kommt.
5 H.S., "Die romanischen Lehnwörter im Berberischen", Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften 188.IV: 1-82..