Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (234-10993)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
07. 03. 1920
Deutsch
Schlagwörter: Curtius, Ernst Robert Lerch, Eugen Ettmayer, Karl von Österreich Curtius, Ernst Robert (1914) Curtius, Ernst Robert (1919)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (234-10993). Bonn, 07. 03. 1920. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2064, abgerufen am 20. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2064.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 7. III.
Verehrter Herr Hofrat,
Meine Rückkunft nach Österreich bedeutet noch vorläufig keinen definitiven Verzicht auf die akademische Karriere (die eher als eine "Laufbahn" ein dicker zähflüssiger Sumpf genannt werden kann), sondern bloß ein Atemholen, eine finanzielle Erholung. Ich habe in diesem Jahr auf Umzug und Valutadifferenz ein Vermögen ausgegeben und so darf es nicht weiter gehen, wenn ich die Pflichten gegen die bestehende und sich hoffentlich noch vermehrende Familie nicht in den Wind schlagen will.
Curtius hat zwei Büchlein geschrieben: über Brunetière1 und die "literar. Wegbereiter des neuen Frankreich"2. Seine Tendenzen sind mir nicht unsympathisch: Verständnis der Fremd|3|völker, Duldung, Gegnerschaft gegen die Alldeutschen, Berücksichtigung des Kulturellen und Ideengeschichtlichen in der Literatur. Dem steht eine gewisse vage und degenerierte Form seiner Ausführungen, eine schöngeistelnde Ästhetenhaftigkeit gegenüber – aber ist es in unseren ästhetisch so unregsamen und in den Instinkten so primitiven Kreisen nicht ganz gut, daß etwas Neues, ein neuer, mehr mondäner Zug hineinkommt?
Es ist eben meine Tragik, daß ich, der ich die Sprachwissenschaft als etwas Lebendiges gefaßt habe, einer Bewegung erliege, die die ganze Sprachwissenschaft zum Teufel wirft. Ähnlich ergeht es ja vielen Neuerern in der Politik – von seiten der Neulinge.
Meine Stimmung ist begreiflicherweise sehr gedrückt. In Köln wird ein Extraordinariat für roman. Linguistik gegründet. Der tenancier des Ordinariats, Lorck, äußerte zu mir vor Monaten, in Betracht käme nur Lerch und ich. Nun ist |4|Herr Lerch versorgt – aber Herr Spitzer kommt natürlich nicht dran. Es ist zum Verzweifeln. Der Trost, es liegt eben nicht an wissenschaftlichen Dingen, ist kein Trost: weil er im Gegenteil einem die Pariastellung meiner Rasse einem doppelt fühlen läßt. "N'avons-nous tous pas un seul père?", steht über belgischen Synagogen zu lesen – aber nicht auf den Kirchen! Was hätte ich tun sollen, wenn ich in Wien geblieben wäre? Warten, daß der Ignorant Ettmayer* mich "anerkennt"?
Wir fahren gegen Ende März nach Pörtschach und bleiben dort bis Oktober. Dort wollen wir unseren Kronprinzen (ohne daß der Vater gekrönt wäre!) erwarten. Wenigstens das eine und unschätzbare Glück habe ich, ein glückliches und sonniges Heim zu besitzen.
Ergebenste Grüße
Spitzer
*Was sagen Sie zu den neuesten Erzeugnissen des "ersten" Inhabers einer romanist. Lehrkanzel in Österreich?
1 Ernst Robert Curtius, Ferdinand Brunetière. Beitrag zur Geschichte der französischen Kritik. Straßburg: Trübner 1914.
2 Ernst Robert Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. Potsdam: Kiepenheuer 1919.