Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (233-10992)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
23. 02. 1920
Deutsch
Schlagwörter: Romania (Zeitschrift) École pratique des hautes études Gilliéron, Jules Paris, Gaston Horning, Adolf Saussure, Ferdinand de Spitzer, Leo (1920)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (233-10992). Bonn, 23. 02. 1920. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2063, abgerufen am 16. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2063.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
23. II. 1920
Verehrter Herr Hofrat,
Zur Zitat-Frage habe ich noch Verschiedenes nachzutragen. Sie schreiben Gilliéron habe Recht, wenn er die Romania nicht lese. Glauben Sie denn das? Mir als seinem einjährigen Schüler können Sie glauben, daß ich wiederholt Gilliéron in der Salle Gaston Paris der École des Htes Études einen Artikel "de M. Orniń" (=Horning) oder anderes nachschlagen sah. Ferner, wie erklären Sie sich, daß Gill. eine S. 200 od. dgl. von Saussures Werk in seiner Abeille zitiert, daß er mich sehr ausführlich widerlegt, ebenso das REW, auch ein paar bissige Bemerkungen gegen Herzog macht, Prof. Jos. Müller in Bonn [im Krieg!] zitiert usw.? Es ist also etwas Blague [?] bei seinem – Antilibrismus.
Zweitens: Gilliéron ist, wie ich mich in zahllosen Diskussionen mit ihm überzeugt habe, ein Monomane und Monologist – er kann einen anderen Gedankengang als den seinen nicht verstehen, daher ist er von vornherein nicht recht dazu geeignet, dort weiterzubauen, wo andere Menschen |2|aufgehört haben, sondern gezwungen, immer wieder alles von neuem aufzubauen, was zweifellos Kraftverschwendung ist.
Drittens würde eine größere Beschäftigung mit den wissenschaftl. Mitarbeitern dazu führen, daß er seine eigenen Ansichten vom Sprachleben als viel weniger originell betrachten würde als sie sind. Sein Verdienst ist vielmehr einer schon vor ihm bestehenden (s. Marty) Auffassung des Sprachlebens durch Betrachtung der Dialekte Bestätigung verschafft zu haben. Seine Auffassung der Volksetym. ist so alt wie dieses Wort: Förstemann.
Dies und anderes werden Sie in meiner Anzeige seiner Faillité lesen.
Herzlichste Grüße
Spitzer