Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (215-10974)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

22. 09. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Frankfurt Freud, Sigmund Lerch, Eugen Wechssler, Eduard Stimming, Albert Vossler, Karl Chamberlain, Houston Stewart Farinelli, Arturo Spitzer, Leo (1918) Güntert, Hermann (1913) Güntert, Hermann (1914)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (215-10974). Pörtschach, 22. 09. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2045, abgerufen am 06. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2045.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Pörtschach, 22. IX.

Verehrter Herr Hofrat,

Ihre Stellung zur Psychoanalyse muß ich vollkommen billigen: das Prinzip Freuds ist richtig, die einseitige Anwendung falsch. Sein Sexualisieren von allem Genie kann man nicht mitmachen. Außerdem sind mir die Psychoanalytiker unsympathischer als die Psychoanalyse, weil sie eine Art psychische Debauche treiben. Gewiß ist das Aufstöbern des sexuellen Moorgrundes der Sprache keine "Neuigkeit" – aber ähnlich hat uns ja schon Albert Dieterich belehrt, daß die Mutter Erde als zeugendes Prinzip in unserem ganzen Volksglauben latent ist. Neu ist nichts, was ist. Nur durch Zusammenstellung des Verwandten übersieht man den ganzen Tatsachenkomplex.

Ja, der Neid – ein schönes Thema! Aber daß Sie den Druck eines Buches mit Einsteins Reklame vergleichen, wundert mich. Ich verurteile die Reklamesucht jüdischer Gelehrter: sie stammt daher, daß diese meist sehr geringe Anerkennung in den Reihen ihrer Fachgenossen finden und in die Arme der sensationslüsternen und korrumpierten Presse flüchten – weil schließlich der Mensch Sympathie zum Leben und zum Atmen braucht und, wird sie ihm versagt, weniger wählerisch wird. Ein Geschmackfehler bleibt das natürlich doch!

|2|

Meine Wohnung ist tatsächlich vom Bonner Oberbürgermeister beschlagnahmt worden. Ich habe nun um K. alle Welt hinaustelegraphiert und Abwehrmaßnahmen getroffen.

Das Bild meines zukünftigen Lebens malt sich mir wieder in aller Dusterkeit: Prof. Meissner, ein gütiger, und vorurteilsloser Bonner Freund, ist so pessimistisch für mein Fortkommen, daß wir uns fragen, ob wir nicht überhaupt dem undankbaren deutschen Boden, der mich nicht mag, Valet sagen sollen. Meine Frau, die als Christin das mir angetane Unrecht doppelt empfindet, hat erst gestern den ganzen Tag durchgeweint.

Herr Lerch, der immer die irgendwo abgehenden Professoren in seinen Rezensionen lobt – Wechssler, Stimming, wohl Zufall?! –, hat zu seinen bekannten Perfidien eine neue gefügt: in seiner Archiv-Rez. meines Anti-Chamberlain äußert er, ich meinte Vossler, wo ich Chamb. sage – Das nenne ich Brunnenvergiftung. Er hetzt seinen Lehrer gegen mich. Wo habe ich je in diesem Werk Vossler gemeint und ihn mit Ch. auch nur verglichen? Wenn ich mit Vossler polemisiere, tue ich es offen und ohne Scheu.

Über holterdipolter vgl. Güntert, Reimwortbildungen.1

Könnten Sie mir bitte das R. M. Meyer'sche Gemper-Bemperlein leihen (sofern Sep. und sofern leicht erreichbar)?

|3|

Ich glaube nicht an die Verwirklichung der auch mir bekannten Idee der Auflassung der kleinen preuß. Universitäten. Das sind so Revolutionsblasen, die bald zerstieben. Ut aliquid mutatum esse videatur. Wie steht es übrigens mit der Aufrechterhaltung von Frankfurt a./M.?

Farinelli hat mir sehr lieb geschrieben, auch daß es ihn freue, mich mit Ihnen, "dem großen Lehrer und Menschen", verknüpft zu sehen.

Ich arbeite wenig und nichts Rechtes. Müdigkeit in jeder Richtung. In solchen Zeiten gibt es nichts als Musik und Briefschreiben. Erstere wird sehr intensiv betrieben: die schöne Frau Lorle Meissner singt uns jeden Abend die großen Deutschen vor, die ich liebe – auch das mir so aus dem Herzen geschriebene Lied "Daß ich so krank geworden..." – , und auch manchen schwärmerischen Romanen oder Slaven.

Meine Frau ist noch nicht besser dran mit ihrem Knie. Sie ist sehr arm.

Alles Liebe, verehrter lieber Herr Hofrat, von Ihrem ergebenen
Spitzer


1 Hermann Güntert, Über arische Reimwortbildungen. Heidelberg: Winter 1913; ein Jahr später erscheint Über Reimwortbildungen im Arischen und Altgriechischen. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung. Heidelberg: Winter 1914.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10974)