Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (202-10961)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

24. 06. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Literarisches Echolanguage Ungarischlanguage Französisch Kammerer, Paul Körner, Joseph Brugmann, Karl Friedrich Christian Meyer-Lübke, Wilhelm Spitzer, Leo (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Spitzer, Leo (1919) Spitzer, Leo (1918) Gilliéron, Jules (1918) Meyer-Lübke, Wilhelm (1919)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (202-10961). Bonn, 24. 06. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2032, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2032.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 24. VI.

Verehrter Herr Hofrat,

Ich bin auch überzeugt, daß Kammerer in Mystizismus verfällt, und es ist auch eine Kritik in der Zeit erschienen, die das ausspricht. Er ist ein fähiger Mensch, mit einem Hang zum Spekulativen, der bei den Naturforschern nicht die Regel ist und auch entsprechend von den Großkopferten angefeindet wird (Klischee "philosophischer Quatsch" oder "Möcht' er doch zu seinen Eidaxln zurück!"). – Mein "Org. u. Bef." ist an Sie abgegangen.

Im Liter.Echo vom 16. Juni erklärt mich Körner als "Expressionisten der Linguistik". Das ist richtig. Die Neigung zur Kunst hin habe ich immer verspürt, leider verbleibt immer ein Erdenrest professoraler Wissenschaftlichkeit, den Tallgren in der erwähnten Rezension sehr gut hervorhebt. Wie in sovielen Dingen bin ich ein "Grenzler" mit allen Stärken und vor allem Schwächen eines solchen an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Idealismus und Skeptizismus, Deutschtum und Romanentum, Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte usw. Was ist die Folge: die |2|Spezialisten erklären einen für oberflächlich, die Leute mit weiter Perspektive sind wenig zahlreich und fallen nicht ins Gewicht, weil die communis opinio vor allem laut wird. Gern gebe ich Ihnen meine Warzen zu. Es wäre besser, sich an meine positiven Seiten zu halten. Brugm. will eben – übrigens ähnlich wie ich – in der Beleuchtung gesehen werden, die ihm am liebsten ist.

Haben Sie mich in ihrer Antikritik zur dritten Potenz1 ordentlich niedergebügelt? Oder nur mit glatter flacher Klinge? – Ung. ronda 'grob' – gehört es nicht zu frz. rond 'rund heraus, frank und frei'? Allerdings -e?

Ergebenst
Spitzer

Über Gilliéron Biene wollte M-L. schreiben.2 Ich gebe Ruhe!


1 H.S., "Erwiderung" [gegen L. Spitzer], in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 40 (1919), 278-280. Es handelt sich um eine Antwort auf Spitzers im selben Heft publizierte "Antikritik" (272-278). Streitpunkt ist Spitzers Schrift Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß.

2 Jules Gilliéron, Généalogie des mots qui désignent l'abeille d'après l'Atlas linguistique de la France. Paris: Champion 1918. Meyer-Lübke bespricht den Band im Literaturblatt 40 (1919), 378ff.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10961)