Paul Kammerer an Hugo Schuchardt (2-5266)

von Paul Kammerer

an Hugo Schuchardt

Wien

25. 09. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Zoologie Philosophie Biologie Wissenschaftstheoretische Reflexion Erster Weltkrieg Sprachphilosophie Sprachwissenschaft Stammbaumtheorie Wellentheorie Spitzer, Leo Leipzig Schuchardt, Hugo (1917) Sterzinger, Othmar (1911) Marbe, Karl (1916)

Zitiervorschlag: Paul Kammerer an Hugo Schuchardt (2-5266). Wien, 25. 09. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2009). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.203, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.203.


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Wien XIII/5 Auhofstr. 239 - 25.IX.1917

Hochverehrter Herr Hofrat!

Der Empfang Ihres geschätzten Schreibens war für mich große Freude und Ehre. Hinsichtlich der von Ihnen beanständeten Stelle in meiner Schrift „Sind wir Sklaven …?“1 möchte ich Ihnen hiemit ausdrücklich Recht geben! Aus Ihrem Einwurf ersehe ich erst, wie weit ich mich von meinem seinerzeitigen, einseitigen Standpunkt entfernt habe. Den dort ausgesprochenen Grundsatz könnte ich zwar aufrecht halten, beziehungsweise ich verspüre Lust dazu, aber dann wär’s Sophisterei; denn ich müsste sagen: Jede historische Forschung hat wohl ihren Zukunftswert; und wenn’s einen Rest gibt, von dem man solches nicht sogleich einsehen könnte, so mangelt eben derzeit bloß die Einsicht, wohin wohl noch die Wege solcher Forschung führen mögen, deren einzelnster und scheinbar selbstgenügsamster Teil dennoch irgendeinmal Baustein werden kann zu einem Bauwerk, das vielleicht ohne ihn nie in solcher Klarheit und Schönheit zustandekäme.

Auch von OSTWALD2 habe ich mich entfernt, in mehr als |2|einer Beziehung, und ihm am meisten das „Umfallen“ nach Kriegsausbruch (Militarismus der bisher erklommene Höchstgipfel menschlicher Entwicklung u. dgl.!) übel genommen.

Die Abhandlungen SCHLEICHERs,3 worin er die Sprache als Organismus betrachtet, kenne ich und glaube, soweit ich mir da ein Urteil erlauben darf, dass die Widersprüche jener und der gegnerischen Anschauung sofort schwinden, wenn man die Sprache nicht als Protoplasten, sondern gewissermaßen als Apoplasma ansieht: nicht als selbständig lebendes Wesen, sondern als Abscheidungsprodukt eines solchen, das dementsprechend all seine Erlebnisse aufbewahrt und ausdrückt wie eine Muschelschale in ihren Wölbungen und Wachstumsstreifen diejenigen des Muscheltieres. Diese Analogisierung dürfte wenigstens leichter, wie gesagt widerspruchsloser durchzuführen sein, ganz unbeschadet dessen, dass sie eben Analogie bleibt und nicht Homologie werden kann, schon eben mit Rücksicht auf den in Ihrem Briefe ausgeführten Umstand: der nicht-substanzielle, sondern rein funktionelle Charakter |3| der Sprache. Dem Aufsatz über Sprachverwandtschaft4, worin dies mich höchlich interessierende Problem mit behandelt ist, sehe ich mit Spannung entgegen.

Den schornsteinförmigen Rückenfortsatz der Raupe weiß ich mir nicht zu deuten. Ehe ich zu Ende gelesen hatte, dachte ich an einen Haarschopf; aber die gelblich-wasserhelle Kugel, die nach Anschnitt herausquoll, muss Blut und die Ausstülpung daher plasmatisch gewesen sein.

Die Frage nach den Bedingungen der menschlichen, ja überhaupt organischen Fruchtbarkeit gehört in der Tat zu den am wenigsten behandelten der Biologie nebst ihren Grenzwissenschaften. Ich bewundere den Scharfblick, mit dem Sie, Herr Hofrat (doch ein Sprachforscher), diese Lücke erkannt haben. Der Wiener Soziologe RUDOLF GOLDSCHEID5 ist in seinem Werke über „Höherentwicklung und Menschenökonomie“ leidenschaftlich für eine endliche, gründliche Aufnahme von Fertilitätsforschungen eingetreten, und ich selbst habe großen Anreiz, ihm zu folgen. Wenn man nur alles machen könnte!!

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Kollege SPITZER bestellte für mich – wie ich dann hörte, auf Ihre Empfehlung hin – STERZINGER, „Zur Logik und Philosophie der Wahrscheinlichkeitslehre“6. Ein höchst beachtenswertes Buch! Die Erscheinung der von ihm sogenannten und ungefähr ab Seite 207 behandelten „Knäuelung“ – er behauptet sie als allgemeineNaturerscheinung – entspricht völlig meinem „Gesetz der Serie“ und nimmt vieles, vielleicht das Wesentlichste von meinen Serialitätsstudien vorweg. Dass, wie Sie SPITZER schrieben, der Autor das Werk aus dem Handel zurückzog, erklärt wohl, warum es mir bisher unbekannt blieb. Nun aber hat es SPITZER ohne jede Schwierigkeit durch den Xenienverlag in Leipzig erhalten können, so scheint es also doch frei verkauft zu werden, vielleicht gegen Willen und Wissen des Verfassers?! Manche Beispiele stehen in meinem Manuskript derart identisch, dass ich des Plagiats beschuldigt worden wäre, hätte ich mein Buch herausgegeben, ohne das von STERZINGER vorher gesehen und zitiert zu haben. Ich bin Ihnen, hochverehrter Herr Hofrat, innig dankbar, mich mittelbar darauf hingewiesen zu haben und verbleibe in vollkommener Hochschätzung

Ihr ganz ergebener
Paul Kammerer

[handschriftliche Anmerkung am rechten Briefrand:]

Den Artikel „Variabilität“ sandte ich als Gegenstück zu Marbe’s „ Gleichförmigkeit7


1 Kammerer (1913) .

2 Wilhelm Ostwald (1853-1932) Chemiker und Philosoph. Nobelpreisträger. Grundlegende Arbeiten zur physikalischen Chemie, zur Atomlehre, Elektrochemie und Katalyseverfahren etc. Aktivist des Monistenbundes, Freimaurer. Unterzeichner der Charta der 93.

3 Welches Werk von August Schleicher (1821-1868) Schuchardt Kammerer empfohlen hatte, können wir hier nicht nachvollziehen. Der Schleichersche Ansatz, dem linguistischen Studium eine naturwissenschaftliche Methode zugrunde zu legen, war prägend, nicht zuletzt für die junggrammatische Schule. Viele seiner Schriften entsprangen der zeitgemäßen Auseinandersetzung mit Darwin, womit der Gegensatz zu Kammerer ja auf der Hand lag. Schuchardt selbst hatte schließlich, bevor er nach Bonn wechselte, ein Jahr in Jena bei Schleicher studiert. Viele seiner frühe Ideen unter anderem auch als Reaktion darauf verständlich, so die Ablehnung der Stammbaum- aufgrund der Wellentheorie, die Rückbesinnung auf frühere Ideen wie Sprachmischung und viele mehr.

4 Schuchardt (1917) (Brevier/Archiv Nr. 695).

5 Rudolf Goldscheid (1870-1931), auch bekannt als Rudolf Golm, als Soziologie, Ökonom, Philosoph und Literat publizistisch tätig; Mitinitiator der Institutionalisierung der Soziologie im deutschsprachigen Raum, Pazifist. Ebenfalls Aktivist des Monistenbundes. Hier Goldscheid (1911) , darin Ideen, die er mehrfach publiziert hat.

6 Othmar Sterzinger (1879-1944) Experimentalpsychologie und Philosoph; hier Sterzinger (1911).

7 Karl Marbe (1869-1953) Psychologe und Sprachwissenschaftler. Er beschäftigte sich ausführlich mit quantitativen Gesetzmäßigkeiten zur Darstellung linguistischer Phänomene wie Analogie oder Rhythmus. Hier Marbe (1916).

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