Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (195-10954)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

30. 04. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Meyer-Lübke, Wilhelm Wechssler, Eduard Lerch, Eugen Österreich Frankreich Italien England Lerch, Eugen (1919)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (195-10954). Pörtschach, 30. 04. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1996, abgerufen am 09. 12. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1996.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 30. IV.

Verehrter Herr Hofrat,

Vielen Dank für die neuerliche schöne und so persönlich geratene Gabe.

Ich, der ich einer der von Ihnen eingangs gekennzeichneten geborenen Übernationalen bin, kann den Geist toleranter Milde und schöner Duldung nur von Herzen loben. – Ich bin aber auch im Stande zu erklären, wieso die beispiellose Vergewaltigung des Deutschtums, die sich jetzt abspielt, zustandegekommen ist – eben als der Anationale, der ich bin.

Ich habe in meiner ganzen Kindheit keine jüdisch betonte Erziehung (etwa zum Zionismus) durchgemacht. Deutsche Sagen und Märchen, allerdings auch die Geschichte der frz. Revolution und Napoleons und italienische Musik haben auf mich den größten Eindruck gemacht. Bis ins Obergymnasium war ich von der Größe deutschen Wesens überzeugt. Diese Dichter, diese Musiker! Auch meine Schulkollegen dachten |2|wie ich: "leopoldstädtisches" Wesen war der ärgste Schimpf. In der 8. Gymn.-Kl. vollzog sich eine Sonderung der Deutschen von den Juden: wir waren im ganzen 40 Schüler, darunter 20 Juden 20 Christen, von den 13 Vorzugsschülern waren 12 Juden. Die Juden waren Antialkoholiker, die Christen tranken. Die Juden genossen Goethe und Wagner, die Christen nannten einander Totila und Gundomar. Mir war es unbegreiflich, wieso die Deutschen sich uns gegenüber so feindlich stellten, wo sie bei Schularbeiten von uns abschrieben.

Auf der Universität war nun alles deutsch: aber verflogen war in mir die Begeisterung für deutsches Wesen, als ich nicht mehr den Geist Eichendorffs, Goethes, Beethovens zu sehen glaubte, sondern den Geist der Unterdrückung alles fremden Wesens, wenn hinter mir laut im Vorlesungssaal von "Saujuden" gesprochen wurde, wenn eine tschechische Promotionsanzeige von Herrn Seminarbibliothekar zerrissen, wenn Italiener in einem akademischen Romanistenverein ausgeschlossen waren, wenn noch als Privatdozent deutsche Couleurbrüder, bei Meyer-Lübke mit mir eingeladen, nicht wußten, ob sie mir die Hand geben sollten...

Sie werden sagen, das ist eben darum, weil das Deutschtum sich wehren mußte gegen die Entnationalisierung. Da frage ich, |3|ob es richtig war, im Weltkrieg von "tschechischen Feiglingen" zu sprechen, wo dieselben Tschechen, die nicht für Österreich kämpfen wollten, gegen Öst. begeistert ihr Leben ließen; oder ob der Triumphzug, der mit der Leiche des gehängten Battisti in Südtirol angestellt wurde, eine Kulturtat war, oder ob der Tod von 7000 Serben in Boldogasszony, einem auf Sumpf erbauten Gefangenenlager, zu sühnen ist, ob die Tauglicherklärung jedes noch so maroden Triestiners im österr. Heer, die ich xmal mitansehen mußte, mit Menschlichkeit im Einklang steht.

Nach allen diesen persönlichen und unpersönlichen Erfahrungen muß ich sagen, das deutsche Volk ist von seinen hohen Idealen durch die "preußische" Richtung der Real- und Koofmich-Politik abgedrängt worden. Es hat schwer vergewaltigt und erntet nun den Dank Europas. Bitte, stellen Sie sich vor, was geschehen wäre, wenn wir gesiegt hätten: wir hätten vor jedem Briefkasten Habt acht stehen müssen! Auch mir ist die Überheblichkeit Frankreichs widerlich, der Macchiavellismus Italiens, die Geschäftlichkeit Englands nicht sympathisch – aber Hand aufs Herz, der Geist Wilhelms II. ist auch nicht "ohne". Sein suaviter in re fortiter in modo hat der Entente den billigen Vorwand gegeben, der ihr ermöglichte, ihren Geschäftsinteressen moralische Mäntelchen umzuhängen. |4| Und leider zeigt das deutsche Volk keinen Willen zur Umkehr: seine Universitäten sind reaktionärer, maulmacherischer, rauflustiger denn je, Ordinarien wie Studenten. Es ist beschämend für Deutschland, daß ein Förster sein Amt niederlegt, weil er sich von seiner Tätigkeit bei dem jetzigen "Geisteszustand" wenig verspricht.

Ihre Abhandlung wird jedenfalls dem Deutschtum mehr Freunde werben als etwa die Mannschaftsvorträge, die knapp vor dem Zusammenbruch 1918 Wechssler gehalten, oder das wüste Buch, das Lerch über das Futurum gekleckst hat.1 Denn aus Ihrer Abhandlung weht eben der Geist des Verstehens und Nicht-Unterdrückens, von dem wir nichtdeutschen Enklaven im deutschen Land, die wir das Deutschtum des Idealismus so gut zu verstehen glauben, ein Lied zu singen wissen.

Bitte nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Ihren Bekenntnissen die meinen, viel unreiferen gegenübersetze und seien Sie überzeugt, daß auch ich "die besten Wünsche für Deutschland und Deutsch-Österreich" hege – die besten Wünsche für seine Vergeistigung und Verinnerlichung.

Alles Liebe und vielen Dank!

Ihr ergebener und dankbarer

Spitzer


1 Eugen Lerch, Die Verwendung des romanischen Futurums als Ausdruck eines sittlichen Sollens. Leipzig: Reisland 1919.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10954)