Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (183-10942)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

12. 02. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Kraus, Karl Sperber, Hans Hoepffner, Ernst Bonn Wien Straßburg Spitzer, Leo (1919)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (183-10942). Wien, 12. 02. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1980, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1980.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 12. II. 19

Verehrter lieber Freund,

Ihre Äußerungen haben mich zu einer Fortsetzung meiner Wage-Wagnisse begeistert, die ein Motto Ihnen entlehnt.1 Der Aufsatz ist gewissermaßen ein offiziöser Artikel (wobei officium = Schuchardt). Das über die peripatetische Methode steht auch drin, nur nicht mit denselben Wörtern. Vor allem stimme ich in Ihre latente Forderung ein:

Mehr Grazie auf der Universität!

Kraus ist ähnlich wie Shakespeare oder der junge Schiller üppig, geschwollen, schwulstig, vulkanisch. Die Kunstform der Maßlosigkeit mußte er sich erst erschaffen. Wie großartig lebt dieser Friedrich, wie herrlich der Satz über das "Generalisieren" eines Generals!

Ja, mit Bonn ist es eine eigene "Sache". Ich muß ja gehen, da ich bezahlt bekomme (1200 Privatdoz. Stipendium), aber ich frage mich, ob es dafür steht, mich von Wien zu exilieren, nur um des leidigen Avancementshungers. Freund Sperber rät: Entsagen Sie aller Karriere, heiraten Sie und arbeiten Sie weiter. Aber, würde ich mir nicht später Vorwürfe machen, ein Wirken auf breiter Basis versäumt zu haben? Daher gehe ich, so schmerzlich die zurückgelassenen Verhältnisse sind.

Daß wir verschieden sind in Weltanschauung und Geschmack, betonen Sie, ich |2|empfinde es viel weniger, oft kommt mir vor, manches, was Sie gesagt haben, hätte ich auch sagen können (arrogant, nicht wahr?) – ich meine, wir haben unsere Front gegen die gleichen Erscheinungen der Pedanterie, der Heuchelei, des Selbstbetrugs gerichtet. Wie Sie z.B. Kraus nicht goutieren, ist es mir zeitweilig auch passiert.

Eine Karte von mir an Hoepffner kommt mit dem Verk. "Zurück Gesperrt" zurück, also ist er schon in Straßburg?

Ergebenste Grüße
Spitzer

Am 24. halte ich in der Eschenbachgasse meinen bolschewistischen Vortrag "Demokratisierung der Universitäten".


1 Spitzer schreibt in dieser Periode relativ regelmäßig in Wiener politsch feuilletonistischen Blättern, so in Die Wage. Hier bezieht er sich auf den am 21. Feber 1919 (XXII. Jg., Nr.8) erschienenen Artikel "Rationalisierung des Universitätsunterrichts". Er entlehnt einem Briefzitat Schuchardts vom 6. Feber 1919 nicht nur das Motto, sondern insgesamt den Titel: "Ich wünschte vor der Demokratisierung der Universitäten eine Rationalisierung des Universitätsunterrichtes. Größte Einschränkung der Vorleserei!".

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10942)