Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (182-10941)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
08. 02. 1919
Deutsch
Schlagwörter: Kammerer, Paul Bonn Spitzer, Leo (1919)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (182-10941). Wien, 08. 02. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1979, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1979.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Wien, 8. II.
Verehrter lieber Freund,
die Stelle mit dem Altersegoismus war natürlich nicht auf Sie gemünzt, sondern bedeutet im Zusammenhang nur so viel, daß der Lehrer und nicht der Wissenschaftler von den Hörern gewürdigt wird. Wie hätte ich an Sie denken können? Herr Hofrat scheinen kein Bild von dem Bild zu haben, das ich von Ihnen in meinem Innern trage! Daß ich das Alter gelegentlich angreife, stammt daher, daß ich mit Altersegoismus in meiner nächsten Umgebung sehr viel zu tun habe.
Mein "bolschewistischer" Artikel1 hat zur Folge gehabt, daß die sozialistische Vereinigung geistiger Arbeiter (Fachgruppe Hochschullehrer) mich zu ihrem Obmann erwählen (Goldschmid, Max Adler, Kammerer) wollte, worauf ich mich mit dem Hinweis auf die Bonner Reise mit der Rolle des Programmredners begnügte. Nach den Wahlen werde ich also meinen Universitäts-Spartakismus beginnen. Bouna wird mir grollen und sämtliche Universitäten, an denen das "ruchbar" werden wird. Helfe mir Gott, ich kann nicht anders. Im Anschluß an den Vortrag soll dann auch die Universitätsreform in einem Fliegenden Blatt von mir abgehandelt werden. Neulich bedauerte ich bei einer Kraus-Vorlesung, daß ich Romanist geworden bin – ich hätte der Gesellschaftskritik mich widmen müssen.
In Bezug aufs "Vorlesen" bin ich nicht ganz Ihrer Ansicht, da ich selbst mit Freude mich in den Vorlesungen auslebe. Mit meiner hohen Einschätzung der Persönlichkeitswerte hängt zusammen, daß ich die durch Bücher unübertragbare persönliche Einmischung nicht missen möchte – "Lautlehre" kann nur durch eine Persönlichkeit ihrer aridité entkleidet werden.
Bitte verbreiten Sie die "Wage" in Grazer Universitätskreisen, damit diese Gedanken Boden fassen! – Auf Sie war übrigens die Stelle von den Freunden unter den wahrhaften Gelehrten gemünzt, wie ich arroganterweise annehme! – Bitte, könnten Herr Hofrat mir sagen, wer die Ztschr. jetzt verwaltet, damit ich mich wegen meines katal. Mss. an "den Verweser" wende? Bisher keine Bestätigung des Empfangs erhalten. – Bei mir zu Haus herrschen traurige Verhältnisse: meine Pflegemutter (74 Jahre)2 hat einen halben Schlaganfall erlitten und so könnte über Nacht mein armer Vater ganz allein sein, während ich in Bonn nicht zu ihm gelangen könnte. So widersprechen sich Anfang und Ende meines Schreibens.
Ergebenste Grüße
Spitzer
1 L.S., "Demokratisierung der Universitäten", in: Die Wage XXII.1 (1919): 80-86. Er zielt auf die Überwindung der Universität als überkommenes aristokratisches System und expliziert seine politisch-wissenschaftliche Grundhaltung: "Der Bund mit dem Kapital ziemt einer freien Wissenschaft so wenig wie der mit dem Militarismus" (S. 86).
2 Die Schauspielerin Tony Janisch, spätere Gräfin Arco, die nicht unmaßgeblich an Spitzers kultureller Erziehung beteiligt war.