Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (180-10939)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

30. 01. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Neumann, Fritz Kraus, Karl Sperber, Hans Österreich

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (180-10939). Wien, 30. 01. 1919. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1977, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1977.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Wien, 30. I.

Verehrter Herr Hofrat,

Mon verre est petit... wird sich wohl nach dem zweiten von mir zitierten Spruch son genre est petit gerichtet haben. Die gemeinsame Quelle ist wohl die tatsächliche Zitierweise in Frankreich (vgl. der Mohr hat seine Arbeit getan >... Schuldigkeit...). Es gibt eben auch bei den Zitaten Allotropa. – Die Selbstanzeige ist erst zu Neumann hingeflattert.

Das Nationale erkenne ich soweit an, als es Tatsachen meint: als ideale Forderung aber darf man es nicht überspannen. Nächstens führe ich sonst einen Kampf für die Erhaltung meiner Familientraditionen und beweise, daß an ihnen die Welt "genesen" soll.

Karl Kraus ist tatsächlich einer der Menschen gewesen, der meine Jugenderziehung stark beeinflußt hat. In seinem "Nachruf" (letzte Nummer) findet sich übrigens ein gutes Beispiel für die Haß-Einblasung in ein gleichgültiges Wort: er greift das von Boog gebrauchte Mulatschag und mulattieren auf und erkennt in ihm alles Widerliche der militaristischen Lebensanschauung. Vgl. Boche.

Ob Bouna mir bona sein wird, ist sehr die Frage. Werde ich mit den 4 Kriegsjahren auf dem geistigen Buckel |2|und ihren Erfahrungen, die eben in den Sozialismus ausmünden (wie der gestern versandte solone zeigt), mich unter der Obrigkeitsherrschaft der Geronten behaupten können? Ich bin nicht mehr geneigt, Konzessionen zu machen, seit ich gesehen, daß die Ludendorff samt ihren Trabanten dem Welten­leid auch nicht entgegengekommen sind.

Much will Sperber nicht habilitieren, obwohl seine Arbeiten ihm gefallen. Was ist dagegen zu tun? Abend? Arbeiterzeitung? Oder was sonst?

Meine Reise wird sich wohl noch 3 Wochen verzögern, da die Paßgeschichten wieder Österreichs Antlitz enthüllen! Wenigstens können wir noch ein paar Karten wechseln.

Ergebenste Grüße vom
Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10939)