Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (70-00610)

von Jan Baudouin de Courtenay

an Hugo Schuchardt

Warschau

07. 07. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Vasmer [geb. Baudouin de Courtenay], Caesaria Vasmer, Max Schuchardt, Hugo (1920) Baudouin de Courtenay, Caesaria (1914) Baudouin de Courtenay, Jan (1974)

Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (70-00610). Warschau, 07. 07. 1920. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1897, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1897.

Printedition:


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Warschau, 7. VII. 1920
Smolna 28 m. 6.

Hochverehrter, lieber Herr Kollege!

Unter dem Druck der jetzigen Lebensbedingungen habe ich schon längst die Fähigkeit verloren, mich zu freuen und überhaupt angenehme Gefühle zu überleben. Trotzdem hat mir Ihre an die Universität adressierte Sendung mit Ihrer Arbeit „Sprachursprung III. (Prädikat, Subjekt, Objekt)“1 eine wahre Freude bereitet. Sie hat mir bewiesen, daß Sie noch Ihre volle Geisteskraft bewahren und im stande sind, solche mit jügendlicher Frische und mit bewunderungswerten Originalität gekennzeichneten Werke zu verfassen. Ich muß Sie beneiden und bewundern.

Ich meinerseits lebe in scheußlichsten Umständen. Ich bin zwar Professor an der hiesigen Universität, |2|aber meine wissenschaftliche Tätigkeit ist beinahe vollständig paralisiert. Ich konnte zwar im J. 1918 Petersburg verlassen, aber alle meine Bücher, alle meine Manuskripte, alle meine in einer langen Reihe von Jahren gesammelten und angehäuften Materialien sind, sammt einigen kostbaren Möbeln, dort geblieben. Ich habe keinen Grund zu erwarten, daß sie dort unversehrt geblieben sind. Ganz umgekehrt, nach allem, was man erfährt, zu schließen, sind sie höchstwahrscheinlich vernichtet worden. Sie können sich vorstellen, wie ein solcher Gedanke auf meine Stimmung und Arbeitsfähigkeit wirkt. Ich erwarte mit Sehnsucht das Ende der persönlichen Welt. Da wird man schließlich Ruhe finden.

Meine Tochter, Cäsarie Ehrenkreutz (2° voto), früher Vasmer (sie ließ sich von Vasmer scheiden, und zwar aus ganz ernsthaften Gründen), hat noch im J. 1914 in den „Извѣстія Отдѣленія русскаго языка и сло|3|весности“ eine kleine Arbeit „Камень-ла́тырь и город Αлатырь“ (auch in Sonderabdruck) veröffentlicht.2 Unter dem Titel dieser Arbeit steht: „ Hugo Schuchardt in Verehrung gewidmet“. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist und ob Sie dies Werkchen bekommen haben.

Obgleich sich meine Tochter von Vasmer scheiden mußte (die Ehe war unmöglich), trotzdem bewahre ich mit Vasmer ganz gute Beziehungen. Er hat mich besucht und wir befinden uns in einer Korrespondenz. Vasmer ist gegenwärtig Professor an der estnischen Universität in Dorpat.3

Mit herzlichsten Grüßen und warmen Glückwünschen verbleibe ich

Ihr

aufrichtig ergebener Freund

JBaudouin de Courtenay

Meine Adresse:

Warschau (Warszawa) (Polen)

Smolna 28–6


1 Schuchardt, Hugo. 1920. ‚Sprachursprung III‘. In Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 448-462. (Brevier-/ Archivnr. 726)

2 Die Arbeit 'Kamen’-látyr’ i gorod Alatyr’' von Baudouins Tochter Cezaria wurde in den Izvestija Otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti Imperatorskoj Akademii Nauk 18 (1914), aber auch als selbständige Publikation herausgegeben. In der Bibliographie der Werke Baudouins von Maria Jasińska (Baudouin de Courtenay, Jan. 1974. Dziela wybrane I. Warszawa: Panstwowe Wydawnistwo Naukowe: 135, Nr. 514) wird sie fälschlich dem Vater zugeschrieben.

3 Auch Schuchardt hatte mit Max Vasmer von 1910 bis zu seinem Tode Briefverkehr.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00610)