Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (67-00607)

von Jan Baudouin de Courtenay

an Hugo Schuchardt

Sankt Petersburg

10. 01. 1911

language Deutsch

Schlagwörter: Jespersen, Otto Rozwadowski, Jan Michael Jespersen, Otto (1904) Costantini, Francesco/Hurch, Bernhard (2007) Rozwadowski, Jan Michael (1904) Baudouin de Courtenay, Jan (1895)

Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (67-00607). Sankt Petersburg, 10. 01. 1911. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1894, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1894.

Printedition:


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Petersburg, 28. XII. 10 / 10. I. 11
В.О. Кадетская л. N 9 кв. 14

Verehrter Freund und Kollege!

Ich bin auf Ihre drei schreiben antwort schuldig: brief vom 4 sept. und postkarten vom 8. XII und vom 5. I.1

Auf die notwendigkeit, das akustische vom physiologischen zu trennen, hat, außer den von Ihnen erwähnten, so viel ich weiß, auch Jespersen2 hingewiesen. Selbstverständlich mußte der gedanke in vielen köpfen auftauchen, da die sache doch so ziemlich einleuchtend ist. Leider fassen nicht alle gelehrten das klare und einleuchtende leicht auf. Mit meiner belesenheit steht es ziemlich schwach, und darum kann ich sehr vieles außer acht lassen. Auf dem oben berührten gebiete haben Sie selbstverständlich große verdienste, |2|da doch Ihre untersuchungen betreffend entlehnungen und sprachmischungen ohne eine sorgfältige unterscheidung dieser zwei seiten der sprachlichen offenbarung und des sprachlichen verkehrs sich gar nicht denken lassen.

Wenn mir Rozwadowski die annahme der zweigliedrigen differenzierung der laute zuschreibt (Wortbildung u. Wo[r]tbed. p. 102),3 so ist das richtig und nicht richtig. Ich spreche wirklich von einer spaltung eines einheitlichen lautelements, fasse es aber nicht in dem sinne von R. selbst. Damals, als ich meinen „Vers. e. Th. phon. Alternationen“ schrieb, konnte ich nicht einmal ahnen, daß R. die sache so geistreich und auf viele gebiete lichtwerfend fassen wird. Unsere wissenschaft befindet sich noch in solchem zustande, daß viele ihrer anhänger scheinbar disparat denken, obgleich sich |3|dieses disparate denken in vielen fällen zu einer gleichartigen auffassung zurückführen lässt. Die ausdrücke und die rein formelle seite sind verschieden, der inhalt aber so ziemlich ähnlich.

So gebe ich Ihnen recht, daß unsere (Ihre und meine) auffassung der „lautgesetze“ sich, im grunde genommen, gar nicht unterscheiden. Manche unvorsichtige und zu einseitige ausdrücke geben anlaß zu mißverständnissen.

Soviel ich mich erinnere, habe ich Ihnen auch den polnischen text meiner arbeit über die „lautgesetze“ geschickt. Eine bestätigung dieser vermutung finde ich in Ihrer korr.-karte vom 8. XII. Sie zitieren ja doch dort S. 27, und diese findet sich im polnischen texte. Ich habe Sie vielleicht |4|nicht recht verstanden. Es ist ja wohl möglich, daß Sie ein zweites exemplar dieses werkchens wünschen. Falls aber nicht, dann bitte ich Sie in Ihrer bibliothek nachsehen zu wollen: vielleicht haben Sie diese broschure irgendwo verlegt. Sobald ich Ihre aufklärung bekomme und mich endgiltig überzeuge, daß Sie entweder ein zweites exemplar brauchen, oder das früher geschickte verloren haben, sende ich Ihnen ein neues. Ich besitze zwar davon nur noch 2 freie exemplare, Sie aber haben immer vorzug vor andern, besonders in dem falle, wo es sich um „lautgesetze“ handelt.

Schreiben Sie mir also nur ein paar Worte: „ich brauche den poln. text“, und Sie haben ihn umgehends.

Indem ich Ihnen alles beste wünsche, verbleibe ich

Ihr ergebenster

JBaudouin de Courtenay


1 Die drei von Baudouin erwähnten Schreiben sind offenbar nicht erhalten.

2 Vgl. etwa Otto Jespersens schon 1904 erschienenes Lehrbuch der Phonetik. Der Briefwechsel Jespersen – Schuchardt wurde von Costantini & Hurch elektronisch im Hugo Schuchardt Archiv veröffentlicht.

3 Rozwadowski, Jan. 1904. Wortbildung und Wortbedeutung. Heidelberg: Winter.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00607)