Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (63-356)

von Hugo Schuchardt

an Jan Baudouin de Courtenay

Graz

20. 02. 1904

language Deutsch

Schlagwörter: Rossijskaja Akademija Nauk (St. Petersburg)language Georgischlanguage Abchasischlanguage Tscherkessisch-Ubychisch Salemann, Carl Gustav Hermann Masing, Emil Paul, Hermann Leipzig

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (63-356). Graz, 20. 02. 1904. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1890, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1890.


|1|

Graz, 20 Febr. 1903 1

Hochgeehrter Herr Kollege

Ich bin Ihnen umso dankbarer für Ihren Brief als Briefe aus Petersburg zu den Seltenheiten gehören. Es ist mir sehr lieb zu hören dass Salemann2 mir nicht etwa aus irgendwelcher persönlichen Verstimmung (die mir ja auch ganz unerklärlich wäre) nicht geantwortet hat. Es liegt mir daran mit aller Welt in Frieden zu leben (was natürlich wissenschaftliche Diskussionen nicht ausschliesst), besonders aber mit den Petersburgern die sich mir ja |2|in mannigfacher Beziehung liberal erwiesen haben, mehr allerdings durch Bücher als durch Briefe. Was die Sache selbst betrifft, so verstehe ich sie gar nicht. Die Akademie hat jene Grammatik seiner Zeit käuflich erworben, aber zum Druck ungeeignet befunden, was mir gar nicht auffiel da ich die wissenschaftlich nicht genügende Qualifikation des Verf. kenne. Aber er hat darin viel Stoff niedergelegt, teils wie es scheint überhaupt nicht bekanntes, teils wenigstens durch die Vergleichung nützlich gemacht (Zusammenstellung von Formen der verschiedenen kharthwelischen Sprachen und Mundarten: Georgisch, Swanisch, Mingrelisch, Phschawisch, Chewsurisch, Ingiloisch u.s.w.) Das |3|Verhältnis des Abchasischen (u. Tscherkessischen) zum Kharthwelischen hat mich vor längerer Zeit besonders angezogen; ich habe aber absichtlich auf eine nähere Untersuchung desselben verzichtet, da ich hörte, Masing beschäftige sich damit. Von Masing, dem ich darüber vor Monaten zum letzten Male schrieb, erfahre ich auch nichts Näheres; das möchte noch sein wenn er wenigstens im Drucke irgend etwas aus seinen Studien oder doch über seine Pläne veröffentlichte. So tappt man im Dunkeln, wird alt und stirbt. Meringer ist sehr erfreut über Ihren Beifall. Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben dass auch ich ihm fast in allem beistimme. |4|Gegen die Art wie Paul den Lautwandel erklärt, habe ich von allem Anfang an Widerspruch erhoben, allerdings mehr innerlich; ich wollte in meinen prinzipiellen Auseinandersetzungen mit den mir grösstenteils sehr befreundeten Junggrammatikern (Paul war in Leipzig wenigstens mein „Famulus“ gewesen) nicht gar zu weit gehen. So ist mir denn Meringer hier zuvorgekommen. Übrigens gedenke ich mich doch demnächst in ganz entsprechendem Sinne zu äussern. Das Buch von E. Къ вопросу о междун. яз. habe ich von Ihnen nicht erhalten. Es würde mich sehr interessieren; können Sie mir es noch zukommen lassen?

Mit verbindlichstem Gruss

Ihr erg.

HSchuchardt


1 Schuchardt scheint sich beim Datum geirrt zu haben: Aus dem Kontext erschließt sich, dass der Brief in das Jahr 1904 datiert.

2 Carl Gustav Hermann Salemann (1849-1916), Orientalist, der sich besonders im Bereich der Iranistik hervorgetan hat. In Riga geboren, wirkte er vor allem an der Petersburger Universität, deren Bibliothekar er von 1875-1890 war. Seit 1895 Akademiemitglied und von 1890 bis zu seinem Tod in leitender Funktion an der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Mit Schuchardt korrespondiert Salemann zu Fragen des Georgischen.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archiv der Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Sig. 356)