Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (59-00604)

von Jan Baudouin de Courtenay

an Hugo Schuchardt

Krakau

01. 02. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Vergleichende Sprachwissenschaft Slawistik Bismarck, Otto von Österreich Schuchardt, Hugo (1898) Schuchardt, Hugo (1898) Baudouin de Courtenay, Jan (1898) Baudouin de Courtenay, Jan (1899) Schuchardt, Hugo (1894)

Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (59-00604). Krakau, 01. 02. 1899. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1888, abgerufen am 25. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1888.

Printedition:


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Krakau, d. 1. II. 99.
Ul. Pędzichów, 12.

Hochgeehrter Herr Kollege!1

Eine Unmasse von Arbeit nach verschiedensten Richtungen hat mich verhindert, früher auf Ihren werten Brief vom 16 Jan. zu antworten.

Wenn Sie sich meine Broschüren etwas näher ansehen, werden Sie wohl zu dem Gedanken kommen, daß wir beide in der Politik ohne große Schwierigkeit übereinstimmen könnten. Ich bin ja auch gegen alle mittelalterlichen und sonstigen historischen Rechte, die ich geradezu für einen Unsinn und für eine ungeheure Ungerechtigkeit halte. Ich kenne nur ein einziges wirkliches Recht: das Recht der Menschheit und des Menschen. Sie finden aber auch unter den Tschechen einige, |2|die denselben Standpunkt vertreten. So nennt z.B. Prof. Masarýk 2 das ganze Treiben der sogen. Jungtschechen beinahe ein Verbrechen und sieht in den jetzigen Aspirationen der tschechischen Politiker weiter nichts, als eine Fortsetzung des alten Romantismus, der alten Abenteuerlichkeit und der alten Lüge. Einer Durchführung derselben Ideen (d.h. der Ideen der allgemeinmenschlichen Wahrheit und Gerechtigkeit) ist auch die Zeitschrift „Slovanský Přehled“ gewidmet, von welcher Sie ein paar Hefte erhalten haben. Es ist wahr, daß man unter den Tschechen sehr wenige gerechte und besonnene Politiker des erwähnten Schlages findet; findet man aber viele solche unter den Deutschen? Der Chauvinismus, der Nationalitäten- und Menschenhaß überhaupt (cf. den Antisemitismus) sind eine wahre moralische Epidemie unserer Zeiten.

Andererseits muß man die Sachen in ihrem Zusammenhange und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit verstehen. Wenn man, einzig und |3|allein im Namen historischer Rechte, allen Gerechtigkeitsanforderungen zum Trotze, ein selbstständiges Königreich des heil. Stephan’s gegründet und darin alle nicht-magyarischen Nationalitäten den Magyaren rücksichtslos geopfert hatte, so muß man konsequenterweise auch tschechische Ansprüche 3 auf ein heil. Wenzels-Königreich etwas milder beurteilen. Es ist ja doch ein ansteckendes und verlockendes Beispiel! Wenn die Brüder Magyaren mit solchem Erfolg sub auspiciis regis magyarisieren, warum sollen wir uns nicht erlauben, auf eine ähnliche Weise sub auspiciis regis alle Einwohner von Böhmen, Mähren und Schlesien zu tschechisieren? Analoge Beispiele findet man auch wo anders.

Sie irren ganz sicher, wenn Sie behaupten, daß ich nur als Pole Bismarck „hassen“ darf. Nicht im geringsten! In politicis fühle ich mich weder Pole, noch Slave, noch Germane; ich |4|fühle mich nur als Mensch, der nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebt. Und gerade als solcher muß ich Bismarck’s Einfluß gerade auf Deutschland für höchst schädlich erkennen. Ich wünsche einen solchen Mann keinem Volke und halte seine Existenz für ein schreckliches Unglück. Der jetzigen Verwilderung der europäischen Gesellschaft hat eben Bismarck in einem hohen Maße beigesteuert.

Meine diesbezüglichen Ansichten finden Sie in dem ersten Teile meiner russischen Broschüre „Цензурныя мелочи“, dann an einigen Stellen in „Myśli nieoportunistyczne“ und schließlich in meinem Aufsatze „Slováci a koruna Sv. Štěpána“ (Slovanský Přehled).

Dasjenige, was Sie für das Oesterreich wünschen, ist auch politisches Ideal der Slovenen; wenn sie (die Slovenen) die Tschechen unterstützen, so ist es nur eine |5|Inkonsequenz, durch die Sprachverwandtschaft und durch den gemeinsamen Kampf gegen die Deutschen zu erklären. Daß die Slovenen dabei gegen eigene Grundsätze verstoßen und sich selbst nur ein Schaden stiften können, ist selbstverständlich. Was den Polenklub (Koło polskie) betrifft, … na, da schweigen wir lieber. Diese Herren standen nie auf einem prinzipiellen Standpunkte und verstanden immer nur zu schachern. Ein trauriger Ausfluß dieser „polnischen“ Politik war der ganze Graf Badeni mit seinen Sprachverordnungen,4 die nur durch seine Unkenntniß der Staatsgrundgesetze und der Nationalitätenverhältnisse zu erklären sind. Jetzt fühlt sich schon der Polenklub etwas unbequem und geniert, aber er hat seine „slavische“ (!) Politik zu weit getrieben. Er möchte zurück, aber er weiß nicht, wie. Jedenfalls kann ich |6|für die österreichisch-polnische Politik keine Verantwortlichkeit übernehmen.

Ob wir wirklich nach Osten ziehen werden, ist angeblich noch unsicher; ich halte es aber für sicher, da ich meine Leute gut kenne. Die Fakultät hat schon als meinen Nachfolger den Dr. Rozwadowski5 (einen sehr tüchtigen jungen Gelehrten und einzigen „vergleichenden Grammatiker“ unter den Polen) vorgestellt; sie will aber den Wunsch aussprechen, mich auf den Lehrstuhl der Slavistik zu überführen. Es geschieht aber mit keiner erforde[r]lichen Energie, und in solchen Fällen bildet die Bescheidenheit eine wenig zu empfehlende Methode. Darum bin ich der Meinung, es werde daraus eine große Null werden.

Es ist wahr, daß nicht nur meine Frau, sondern auch ich selbst „mit warmen Gefühlen“ nach Krakau übersiedelten. Ein längeres Verweilen unter den hiesigen Verhältnissen aber |7|wirkte als ein Guß kalten Wassers; wir sind nichts weniger als entzückt. Und so erfüllt uns die Aussicht, nach Rußland zurückkehren zu müssen, mit einem viel geringeren Schrecken, als es sonst zu erwarten wäre.

Madeyski ist ein „höherer“ Politiker, und mit ihm werde ich gewiß, wenigstens was die Grundsätze anbetrifft, nicht einverstanden sein.

Der Ihnen bekannte Basko-Slave Topolovšek6 möchte in Krakau promovieren und bat mich um Zulassung seiner „Basko-Slavischen Spracheinheit“ als Doktorschrift. Ich habe ihm geantwortet, meine Kenntnisse reichten nicht so weit, um im Stande zu sein, sein Buch verstehen und beurteilen zu können. Und so ist die Sache vorderhand erledigt.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr ganz ergebener

JBaudouin de Courtenay

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Meine adressen:

1) bis z. 5 august:

Kossów (Ost-Galizien)

Kuranstalt des Dr. A. Tarnawski

(Lecznica d-ra A. Tarnawskiego)

Profesor JBaudouin de Courtenay

2) vom 6 bis z. 20 august:

Krakau (Kraków)

Ul. Karmelicka, 24

u pani A. Borońskiej

Prof J.B de C.

3) später weiß ich noch nicht genau

4) vom 20 september an, wie gewöhnlich:

Petersburg (Russland)

Вас.Остр. Кадетскаял., No 9, кв. 14.

И. А. Бодуэн-де-Куртенэ


1 Von diesem Brief gibt es in Petersburg unter der Signatur 356.51-54a eine Abschrift, die sich Baudouin von eigener Hand angefertigt und behalten hat.

2 Thomas Masarýk nahm in der Sprachenfrage einen gemäßigten und realistischen Standpunkt ein. Er hatte sich bereits als „unpatriotischer“ Tscheche mit der Enttarnung der Königinhofer Handschrift als Fälschung bei vielen seiner Landsleute unbeliebt gemacht, war aber wie seine radikalen Landsleute und wie die Deutschen strikt gegen einen Verordnungsweg in der Sprachenfrage.

3 Baudouin reagiert hier offensichtlich auf Schuchardts Ausführungen gegen die nationalistischen und panslawistischen Tschechen, die dieser noch deutlicher als in seinem Brief in seinen Schriften von 1898 Tchéques et Allemands … Lettre à M***. Paris: Welter und ‚Zur Literatur über die Sprachenkämpfe I-III‘, In Beilage zur Allgemeinen Zeitung Augsburg 249: 1-3; 250: 3-6 gemacht hatte (Brevier-/Archivnr. 324 und 325).

4 Der Pole Graf Kasimir Badeni (1846-1908), der 1895 Statthalter in Galizien war, war im Oktober 1895 zum Ministerpräsidenten berufen worden und hatte eine Reihe polnischer Landsleute zu Ministern berufen. Die von ihm am 5. April 1897 erlassenen Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren, die eine Durchbrechung des Prinzips des Deutschen als innerer Amtssprache bedeuteten und von allen Beamten im Königreich Böhmen den Nachweis der Kenntnis des Deutschen und Tschechischen in Wort und Schrift verlangten, führten nicht zu dem erhofften Ausgleich, sondern zu Unruhen und einem gesteigerten Nationalismus. Badeni wurde im Gefolge dieser Unruhen am 28.11.1897 vom Kaiser entlassen.

5 Jan Michał Rozwadowski (1867-1935), Sprachwissenschaftler, Indogermanist und Slawist, der sich bei Baudouin habilitiert hatte, wurde sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für vergleichende Sprachwissenschaft in Krakau.

6 In der Tat war dieser Autor Schuchardt bekannt. Er hatte bereits 5 Jahre zuvor dessen hier erwähntes Buch in vernichtender Weise rezensiert. Schuchardt, Hugo. 1894. '[Rez. von:] Johan Topolovšek, Die basko-slavische Spracheinheit. I. Band. Einleitung. Vergleichende Lautlehre. Im Anhang: Iro-Slavisches'. In Archiv für slavische Philologie 16: 528. (Brevier-/Archivnr. 288)

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