Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (57-00603)
an Hugo Schuchardt
15. 01. 1899
Deutsch
Schlagwörter: Deutsch Bismarck, Otto von Baudouin de Courtenay, Jan (1898) Baudouin de Courtenay, Jan (1898) Baudouin de Courtenay, Romualdę (1897) Baudouin de Courtenay, Jan (1899) Mugdan, Joachim (1984)
Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (57-00603). Krakau, 15. 01. 1899. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1884, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1884.
Printedition:
Krakau, d. 15/I. 1899.
Ul. Pędzichów, 12.
Hochgeehrter Herr Kollege!
Ich wußte nicht, daß Sie sich für solche Dinge interessiren können, und darum habe ich Ihnen meine Broschüre über die falschen Fassionen nicht geschickt. Jetzt sende ich Ihnen nicht nur diese Broschüre (Jeden z objawów moralności …)1, sondern noch einiges andere derselben Art. Vielleicht werden Ihnen meine „Цензурныя мелочи“2 nicht besonders gefallen, da ich dort von Bismarck und seinen Genossen mit keinem großen Respekt rede; es ist aber meine volle Überzeugung, und |2|ich halte gerade Bismarck für einen der Hauptvergifter der öffentlichen Moral. – Die Broschüre Sylwetki polityczne stammt nicht von mir, sondern von meiner Frau 3 her. – Ich lege auch den „Slovanský Přehled“ 4 bei, teils in ganzen Heften, teils in einzelnen Bogen mit meinen Aufsätzen. Der Aufsatz über die Slovaken kann deswegen interessant sein, da er im Zusammenhange mit meiner Reise zu den Slovaken steht, und diese Reise wird auch als Grund meiner Entlassung angegeben. Sie wurde nämlich als eine „panslavistische Agitation“ verschrieen, obgleich ich mich in Turčiansky Svätý Martin (Turócz Szent Márton) ausschließlich mit der slovakischen Sprache und dabei selbstverständlich etwas mit dem Folklore beschäftigte. Ich habe |3|eine diesbezügliche Berichtigung auf Grund des § 19 in die „Wiener Allgemeine Zeitung“ geschickt, weiß aber nicht, ob diese edlen Herren es veröffentlichen werden. 5 Es ist abscheulich, daß man sich mit diesem journalistischen Lumpenpack in der Art von Freitag’s Schmuck herumbeißen muß.
Die ministerielle Verordnung über meine Entlassung (d.h. über die Nichterneuerung des fünfjährigen Kontraktes) kam erst nach einer Fakultätssitzung, wo man mit 16 Stimmen gegen 6 principiell beschloß, mich hier zu behalten, und man nur eine Kommission zur Aufklärung einiger Punkte und überhaupt für Verhandlungen mit mir wählte. Man wollte nämlich von mir wissen, ob ich durch die Einwilligung zur Uebersetzung meiner Broschüre ins Deutsche keinen schlechten Absichten gegen die hiesige Gesell|4|schaft den Ausdruck geben wollte. Es war eine Konzession für die Herren, die gegen mich aus „patriotischen“ (!!) Rücksichten raisonnirt hatten.
Durch die ministerielle Verordnung ist die ganze Sache in eine ganz andere Bahn eingeleitet worden. Es verlautet, die Fakultät (d.h. deren Majorität) wolle mich behalten; ob sie aber dazu eine genügende Energie und guten Willen haben wird, und ob das Ministerium sich überzeugen läßt, das ist wieder eine andere Frage.6 – Ich rechne jedenfalls mit der ministeriellen Verfügung als mit einem fait accompli und thue entsprechende Schritte in Rußland, um dort eine Unterkunft zu finden
Mit verbindlichstem Gruße
Ihr herzlich ergebener
JBaudouin de Courtenay
1 Baudouin de Courtenay, Jan. 1898. Jeden z objawów moralności oportunistyczno-prawomyślnej. Kraków: Gebethner i Wolff.
2 Baudouin de Courtenay, Jan. 1898. Cenzurnye „meloči“. I. Knjaz’ Bismark i gonenie „Slavjan“. Kraków: Gebethner i Wolff.
3 Baudouin de Courtenay, Romualdę. 1897. Sylwetki polityczne. Ksiądz Stanisław Stojałowski, Ignacy Daszyński, Jakób Bojko, Jan Stapiński, Karol Lewakowski, etc. Kraków: Gebethner i Wolff.
4 Slovanský Přehled. Baudouins Beitrag Slováci a koruna sv. Štěpána erschien in den Heften des ersten Bandes des Slovanský Přehled, der 1898 und 1899 herauskam und zwar auf den Seiten 2-9 (1898); 73-78 (1898); 125-129 (1898) und 170-176 (1899).
5 Eine Berichtigung in „Wiener Allgemeine Zeitung“ ließ sich nicht ermitteln.
6 Die Fakultät versuchte noch, Baudouins Vertrag zu verlängern und den Lehrstuhl für Slawistik mit ihm zu besetzen, doch sowohl Baudouins Weigerung, sich wegen seiner Broschüre über die Falschen Fassionen (einen in Galizien unter Hausbesitzern üblichen Steuerbetrug, den er darin angeprangert hatte) bei den Galiziern zu entschuldigen, als auch sein Eintreten für die Slowaken und gegen die Magyarisierungspolitik führten dazu, dass das Wiener Ministerium mit Schreiben vom 5.7.1899 an den Statthalter Galiziens einer Verlängerung des Vertrages von Baudouin nicht zustimmte. (Vgl. dazu Mugdan 1984, 25ff mit weiterführender Literatur).