Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (35-356)

von Hugo Schuchardt

an Jan Baudouin de Courtenay

Graz

16. 02. 1887

language Deutsch

Schlagwörter: language Chinese Pidgin Russianlanguage Russischlanguage Romanische Sprachenlanguage Irisch Alexandrov, Aleksandr Ivanovič Pfizmaier, August Krek, Gregor Aleksandrov, Aleksandr Ivanovič (1884) Pfizmaier, August (1882) Krek, Gregor (1874) Jagić, Vatroslav Ignaz (1910)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (35-356). Graz, 16. 02. 1887. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1835, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1835.


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Graz 16 Febr. 1887

Verehrter Herr Kollege!

Ich bin gerade wieder einmal beim Chino-russischen, vulgo Kjachtinischen, das ich in meiner für Groebers Encyclopaedie bestimmten Abhandlung über die Kreolischen Idiome berücksichtige,1 und werde dabei – nicht als ob ich Sie sonst vergessen hätte – in besonderer Weise an Sie erinnert dessen Güte mir in Bezug auf diesen Punkt mehrfache Auskunft gab. Den Aufsatz von Čerepanoff und den Reisebericht von R.(ejchman) in welchem sich nur wenige Phrasen des Jargons finden, habe ich jetzt |2|hier, aber Pjaseckij’s Reise werk habe ich mir nicht verschaffen können. Sie sandten mir damals reiche Auszüge aus dem selben; vielleicht ist es sogar Alles was sich dort über das Kjachtinische findet. Hat er denn – darauf käme es mir besonders – an – allgemeine Bemerkungen über den Dialekt? Wenn man nur einmal eines solchen Wörterbuchs habhaft werden könnte, wie sie die Chinesen zur Erlernung des Russischen brauchen! Aleksandroff’s Angabe dass die Russen zu Kjachta “как сами между собой, так и в обращенiи с Китайцами”, sich des Russischen bedienen, finde ich sonst nicht bestätigt; es wäre ja auch sehr unzweckmässig. Wie sollen denn die Chinesen reines Russisch verstehen? (s. z. B. Rejchman p. 402) |3|Da ich vermuthe dass Sie den Рус. Фил. Вѣстник auf Ihrem Schreibtisch stehen haben, so hätten Sie vielleicht die Güte mir die Seiten = und Bandzahl von Aleksandroff’s und meiner Notiz über den Маймачинское Нарѣчiе (1884 od. 1885), die ich beide in Separatabzügen habe, anzugeben. Chino-russisches findet sich auch bei Pfizmaier, Ber. D. W. Ak. Ph.-hist.Kl. G, 1060.2 Kruszewski’s Auslassungen über die Lautgesetze habe ich neulich, freilich nicht mit voller Aufmerksamkeit, in Teubner’s Zeitschrift gelesen;3 aber es ist mir da ebensowenig, wie bei der Durchsicht der russischen Schrift, sein Standpunkt vollkommen |4|klar geworden. Bei den speciellen “Lautgesetzen” scheint er Ausnahmen zuzulassen; ihnen stellt er ausnahmslose allgemeine Lautgesetze gegenüber, in Bezug auf die er einige guter Bemerkungen macht, die er aber doch nicht wirklich erweist. Die Hauptschwierigkeit, die dialektischer Differenzierung, erörtert er nicht. Wie kommt es denn, dass Vok C Vok hier (z.B. im Kymrischen und grösstentheils im Romanischen) zu g, dort (z. B. im Irischen und Florentinischen ) zu χ wird? In den beiden Fällen, dem keltischen und dem romanischen handelt es sich doch um den ursprünglich ganz gleichen Laut. Wie geht es übrigens dem Verfasser? ist er wirklich wie ich höre, unheilbar? Hier erregt, auch bei denjenigen die nichts davon verstehen, Krek’s Werk, das |5|Ihnen wohl schon längst vorliegt, grosses Aufsehen. Es steckt eine stupende Gelehrsamkeit darin; und wird besonders durch die Benutzung und Aufarbeitung der slawischen Literatur werthvoll sein. Westeuropäisches ist hie und da übersehen worden. Über den Inhalt zu urtheilen, bin ich nicht kompetent, so weiss ich nicht, inwiefern der allzuconservative Standpunkt der in Allem eingehalten wird, sich vertheidigen lässt.4 Aber ich bin (Sie wissen ja dass ich mit Krek keine Beziehungen unterhalte) in der Wissenschaft wenigstens von jedem persönlichen Vorurtheil frei (was bei Krek nicht der Fall sein dürfte) und würde dadurch an einer vollen Anerkennung nicht gehindert werden. Nur darf ich |6|wohl sagen dass die sprachliche Form an vielen Stellen mir missfällt, nicht etwa wegen “slawo-deutscher” Färbung, nein sondern weil der alte deutsche halbbarbarische Gelehrtenstil durchschlägt.

Bestes wünschend und

herzlichst grüssend

Ihr ganz ergebener

Hugo Schuchardt

Einige Fragen! Der Jargon bei Pj. scheint mir recht inkonsequent wiedergegeben zu sein, oft z.B. -ъ im Auslaut, wo ja der Chinese immer einen Vokal zu sprechen pflegt. Auffällig ist mir -з- = -s, -ts; -t’- - t-; in Ihrer Probe отопалицзы (=отпирáйся) поделицза (подраться) – das цз ist doch = iz? (mir ist das ц fremdartig; warum nicht из?) – сандацза. So finde ich bei Čerepanoff: боиза (бояться) us.w. соледаза (-тья?) халаза (-тъ), монеза (-та), поманиза (‑ть) переза (передъ) попереза (поперечь). Wenn noch ц stünde, wie месеца und sogar мѣсяца für вмѣстѣ geschrieben wird. In ума-копĕчайло (Verrücktheit) середеце-шило (Hartherzigkeit) scheint ло an ein Verbum angetreten zu sein (was aber ist копечай; ? Verstandesräucherung?); so findet sich auch фальшивайла (Betrug betrügen). лошаки aus лошадка erkläre ich mir auch schwer. купецкэ, geht worauf zurück? Was ist шелатай-балетай “auf irgend eine Weise?” In побольшанкэ “nachgrosser” (=Vorgesetzter) verstehe ich das по nicht recht; auch bei Čerep. побольшане, -ана, -енъ (wo mir überdies die Endung wiederum Schwierigkeiten bereitet. Покушалэ ( покушай)?


1 Unseres Wissens verwirklicht Schuchardt diese Veröffentlichung nicht.

2 Pfizmaier, August. 1882. ‚Erörterung und Aufklärung über Aino‘. In Berichte. d. W. Akademie. Philosophisch-historische Classe 100: 1023–1102

3 Es handelt sich um eine gekürzte deutsche Fassung von Kruszewskis Dissertation, vgl. Fußnote in Brief Nr. 36 (Bibl.Nr.: 00596).

4 Die Arbeit von G. Krek, Einleitung in die slavische Literaturgeschichte war 1887 in zweiter überarbeiteter und wesentlich erweiterter Auflage erschienen. Es handelt sich um eine im romantischen Geist geschriebene Kulturgeschichte auf der Grundlage der Sprache und der Volksliteratur, die nach Krek im Mythos gründete. V. Jagić sollte später in seiner Istorija slavjanskoj filologii, St. Peterburg 1910, S. 786 das hier geäußerte Urteil von Schuchardt bestätigen, als er schrieb: „Als Nachschlagewerk hat das Buch von Krek große Bedeutung wegen der reichen bibliographischen Angaben, aber seinem allgemeinen Charakter nach ist es eher eine kompilative Arbeit als eine selbständige Untersuchung.“ (Übers. a. d. Russ. W.E.)

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archiv der Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Sig. 356)