Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (25-00590)

von Jan Baudouin de Courtenay

an Hugo Schuchardt

Dorpat

11. 04. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Wien Graz

Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (25-00590). Dorpat, 11. 04. 1886. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1824, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1824.

Printedition:


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Dorpat, d. 11 April 1886

Hochverehrter Herr Kollege!

Den Ursprung des Gerüchtes über meine Berufung nach Wien habe ich Ihnen schon in meinem letzten Briefe erklärt. Es ist wohl nichts anderes, als ein kleiner Beitrag zur Mythologie des XIX.en Jhdts, wobei Zeitungen und Telegraph als die mächtigsten Factoren auftreten. Es existirt, soviel ich weiss, ein Gesellschaftsspiel, welches darin besteht, dass irgend welche Person eine x-beliebige Phrase od. selbst ein Wort ihrem Nachbar ins Ohr spricht. Dieser sagt es seinerseits seinem Nachbar u.s.w., bis endlich das von der ersten Person Gesagte in einer fast immer ganz entstellten Form zu ihr zurückkehrt. So auch ungefähr in dem gegebenen Falle hat die vermeintliche Nachricht eine kleine Rundreise gemacht, um schliesslich |2|zu mir zu gelangen. Ich habe über den aus Wien erhaltenen privaten Brief einem gesagt; dieser

1) beförderte das weiter in Dorpat selbst,

2) aus Dorpat gelangt das nach Petersburg,

3) Novoje Vriemia (Новое Время) druckt das in einer kategorischen Form ab,

4) „N. Wr.“ kommt mit der Nachricht nach Laibach,

5) „Slovenski Narod“ wiederholt die Nachricht,

6) „ „ kommt nach Graz,

7) aus Graz wird darüber nach Wien telegraphirt,

8) in Wien befestigt sich die Nachricht und gewinnt an Sicherheit; in folge dessen

9) wird sie telegraphisch von einem čechischen Correspondenten in die Prager Zeitung „Hlas Národa“ mitgetheilt, und zwar mit der Bemerkung, sie stämme aus einer glaubwürdigen Quelle, selbstverständlich aus einer Wiener-Quelle. „Dovídám se věohodně ….“ heisst ja: ich erfahre glaubwürdig. – Schliesslich

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10) telegraphirt mir darüber ein z.Z. in Prag weilender Freund und schickt einen Brief mit dem bezüglichen Telegramm des „Hlas Národa“ nach. –

Es hat also die Nachricht folgenden Weg durchgemacht:

(Wien – privatissime, brieflich) –> Dorpat (privatim, mündlich) –> Petersburg (öffentlich) –> Laibach –> Graz (telegraphisch) –> Wien (telegr.) –> Prag –> zurück, Dorpat (telegraphisch u. brieflich).

Man hat berechnet, dass wenn Jemand um 9 Uhr Morgens irgend welche Nachricht nur 3 Personen mittheilt, und wenn dieselben es nach 15 Minuten dasselbe thun (d.h. jede von ihnen es wieder 3en sagt), wenn sich überhaupt dieser Process der Weiterbeförderung im Verhältniss 1:3 jede Viertelstunde wiederholt, so wird es um 1¾ Nm. schon fast (oder mehr als?) eine doppelte Menscheit erfahren. Es ist ja 320 = ca. 3½ Milliarden.

Nach dem oben auseinandergelegten und nach |4|einigen andern Umständen zu schliessen, komme ich nie nach Wien. – Verzweifeln werde ich jedenfalls nicht. Dorpat ist zwar für mich langweilig und unfreundlich, aber arbeiten kann man auch hier, wenn man nur gesund und kummerfrei ist. Leider kann ich nicht immer kummerfrei leben.

Ich hoffe, dass Ihre Gesundheit, lieber Herr Kollege, schon wieder ganz gut ist. Indes ich es Ihnen von Herzen wünsche, verbleibe ich

mit besten Grüssen

Ihr ganz ergebener

JBaudouin

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00590)