Johan Hendrik Caspar Kern an Hugo Schuchardt (08-05513)

von Johan Hendrik Caspar Kern

an Hugo Schuchardt

Leiden

16. 10. 1895

language Deutsch

Schlagwörter: Publikationsversand Sprachwissenschaft (Reflexion) Phonetiklanguage Georgischlanguage Sumerisch Tsagareli, Alexander Schuchardt, Hugo (1895) Erckert, Roderich von (1895)

Zitiervorschlag: Johan Hendrik Caspar Kern an Hugo Schuchardt (08-05513). Leiden, 16. 10. 1895. Hrsg. von Silvio Moreira de Sousa (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1791, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1791.


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Leiden 16 Oct. 1895

Geehrter Herr College,

მადლობას შეგატყობ თქუენი საჩუქარისთვის.1 Diese wenigen Worte werden Sie überzeugen, dass ich Ihre Schrift2 über das Georgische mit grossem Interesse gelesen habe.

Schon seit längerer Zeit hat mich das Studium der grusischen Sprachfamilie in meinen freien Stunden beschäftigt, und dabei habe ich leider die Wahrheit Ihrer Bemerkung empfunden, dass die Hilfsmittel unzugänglich und unzulänglich sind. Hätte ich nur einige Monate mit einem Georgier Umgang pflegen können, wie viele unerledigte Fragen hätte er mir lösen können!

Wenn man das Grusische für sprachvergleichende Versuche benutzen will, liegt meines Erachtens die Hauptschwierigkeit darin, dass bei der Zerlegung |2| der Sprache in ihre ursprünglichen Elemente so viele Unsicherheiten bleiben. Man muss natürlich anfangen mit der Lautlehre, wie Sie richtig bemerken. Aber das ist für Sprachvergleichung nicht genügend. Nicht nur den jetzigen Lautbestand muss man kennen und begreifen, sondern auch nachspüren, wie und woraus sich der jetzige Zustand entwickelt hat. Die Reconstruirung des Sprachzustandes ist bei einer so kleinen Familie wie die Karthwelische - das Luzische scheint mir in mancher Beziehung alterthümlicher als das Grusische - ist sehr schwierig und gefährlich. Dass manche Laute im Grusischen eine Geschichte gehabt haben, ist deutlich genug. Zur Zeit, wo das Alphabet eingeführt wurde, müssen die Buchstaben doch annähernd oder ganz den Lautwerth gehabt haben, den sie in der Sprache, woraus das Alphabet übernommen, besassen.

Weiter ersieht man aus den aufgenommenen Fremdwörtern, dass die Aussprache bei den Georgiern sich geändert hat. Dazu kommt, dass die Consequenz fehlt. Z. B. gewöhnlich ersetzen ფ, თ, ქ oder ხ die Spiranten anderer Sprachen, aber in persischen Wörtern mit anlautendem p, [wird] öfters p durch ფ ersetzt, ohne dass von arabischem Einfluss die Rede sein kann. Ueberhaupt ist das ფ in seinem Verhältniss zu თ wunderbar. Ich habe von Tsagareli selbst den Laut gehört als einfaches b (wie dies im |3| Französischen, Holländischen, Englischen, Malaiischen, Indischen (nicht wie im Hochdeutschen oder Norwegischen)) lautet; ganz abweichend vom Indischen bh. Dagegen klang Tsagareli’s თ mir als das dänische t wie es in Kopenhagen ausgesprochen wird, nicht ganz wie Englisches scharfes th in think usw. und auch nicht ganz wie anlautendes hochd. z. Ich möchte sagen, das Kopenhagener t, z. B. in tack ting bildet den Uebergang zwischen aspirirtem, interdentalem t (also th) und dem einem Zischlaut ähnlichem Engl. th, Ngr. ϑ.

Mit dem sogen. alarodischen Inschriften habe ich mich auch eine Weile beschäftigt, doch ich habe die Sache bald aufgegeben. Erstens sah ich ein, dass man ein Assyriologe sein muss, um die Entzifferung controliren zu können; und vom Assyrischen und Sumerischen verstehe ich nichts. Zweitens ist das Vertändniss der alarodischen Texte uns noch verschlossen. Was die Versuche Sagu’s3 und Homonel’s4 betrifft, will ich nichts böses sagen; doch sind dieselben absolut unbrauchbar.

Das Buch von R. von Erckert5 kannte ich nicht, aber was Sie davon sagen hat mich ermuthigt es mir anzuschaffen.

Können Sie mir einige Titel mittheilen von Grusischen Romanen oder dergleichen in der jetzigen Sprache geschriebenen Büchern? Ich werde Ihnen für die Anwei|4|sung sehr dankbar sein.

Wenn ich in diesen Zeilen zu viel geplaudert habe, sollen Sie es mir verzeihen. Es macht einem Menschen, der ja ein gesellschaftliches Thier ist, immer Freude, wenn er einen Genossen antrifft. Hier kümmert sich Niemand um kaukasische Sprachen, und deshalb freue ich mich wenigstens in der Ferne einen gleichgesinnten zu wissen.

Empfangen Sie nochmals meinen besten Dank und die Versicherung dass ich mit freundlichen Grüssen bin

Ihr ergebenster
H. Kern.


1 Die Übersetzung dieses Stazes ist ‘Danke für Ihren Geschenk‘. Im heutigen Georgischen wurde man sagen: ”მადლობას გიხდით თქვენი საჩუქრისათვის”.

2 Gemeint wird vermutlich folgendes Werk: Schuchardt, Hugo. 1895. Über das Georgische. Wien: Selbstverlag des Verfassers. [Archiv-/Breviernummer: 289].

3 Es liegen keine Informationen vor.

4 Es liegen keine Informationen vor.

5 Wahrscheinlich wird dieses Werk gemeint: Erckert, Roderich von. 1895. Die Sprachen des Kaukasischen Stammes. Wien: A. Hölder.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05513)