Karl Friedrich Christian Brugmann an Hugo Schuchardt (06-01416)

von Karl Friedrich Christian Brugmann

an Hugo Schuchardt

Leipzig

20. 11. 1918

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Rezension Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Anthropos Syntax Biographisches Sprachphilosophie Schuchardt, Hugo (1918)

Zitiervorschlag: Karl Friedrich Christian Brugmann an Hugo Schuchardt (06-01416). Leipzig, 20. 11. 1918. Hrsg. von Pierre Swiggers und Herman Seldeslachts (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1770, abgerufen am 12. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1770.

Printedition: Swiggers, Pierre; Seldeslachts, Herman (1995): "Ein so alberner Wicht ... bin ich gottlob nicht!": Das schwierige Verhältnis zwischen Karl Brugmann und Hugo Schuchardt. In: Orbis. Bd. 38., S. 197-214.


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Leipzig 20. XI. 18

Sehr verehrter Herr Kollege,

Für die freundliche Zusendung Ihrer Besprechung meines Aufsatzes über das Scheinsubjekt es, il (Literaturbl. 1918, 287) sage ich Ihnen besten Dank. Diese Besprechung, so wohlwollend sie ist, hat mich etwas überrascht, ich stehe ihr bis jetzt fast1 ohne Verständnis gegenüber, und ich bitte um die Erlaubniss, Ihnen darüber zwei Worte sagen zu dürfen.

Zunächst möcht ich betonen, dass mein Aufsatz ganz und gar nicht auf Unkenntnis oder gar auf Nichtbeachtung und2 Nichtberücksichtigung dessen beruht, was Sie im Anthropos 1914 über eingliedrige Sätze dargelegt haben. Gerade als ich — etwa vor 2 Jahren — an der Winterarbeit des letzten (noch nicht erschienenen und3 auch im Manuskript4 noch nicht fertigen) Teiles meines ‘Grundrisses’ sass und mich die ‘Eingliedrigkeit’ der Sätze beschäftigte und mir Ihre Anthropos-Bemerkungen im Kopf herumgingen (zu denen ich schon Grundr. II2, 3, 593 f. mich ausgesprochen habe), kam ich auf den Gedanken, etwas über das ‘Scheinobjekt’ zu veröffentlichen. Was ich darüber glaubte sagen zu können, meinem ‘Grundriss’ einzuverleiben, schien mir untunlich, sowohl des Umfangs wegen als auch, weil es nur neuere Sprachphasen betrifft, wenigstens im Tatsächlichen.

Auf die Termini ‘subjektlose Verba, Impersonalia’ usw. kam es mir nicht an. Auch nicht auf die Frage von Ein- und Mehrgliedrigkeit5 von Sätzen. Sondern nur darauf, im Anschluss an welche bereits vorhandene6 Ausdrucksweisen man von regenot zu eʒ regenot, von pluit zu il pleut übergegangen ist, welches die realen Vorbilder für eʒ regnot [sic] usw. gewesen sind. Und wenn ich angenommen habe, dass diese in den Satzgestaltungen wie es freut mich, dass …, es ist mir recht, dass … zu suchen sind und nicht etwa in da steht ein Kind, es weint, u.dgl., so wüsste ich nicht, was sich dagegen sagen liesse. Und so verstehe ich eben Ihre ganze Opposition nicht; Sie machen eine sprachphilosophische Frage zur Hauptsache, die jenseits meines Themas liegt und die ich eben deshalb getrost beiseite lassen zu dürfen glaubte und7 auch heute noch glaube. Was das es, das il herbeigerufen hat, ist natürlich ein Bedürfniss oder ein Trieb — oder wie Sie es nennen wollen — satzformaler Art gewesen, das hab ich doch nirgends geleugnet, und wenn ich mir zur ‘Hauptsache’ gemacht habe, zu zeigen, woher die neuen es, il zunächst geholt worden sein müssen, so war ich denk ich dazu vollauf berechtigt. Warum ich es mir nicht zur Hauptsache hätte machen dürfen und warum Sie mit meiner Hauptsache nicht einverstanden sind, bleibt mir also bis auf weiteres unklar.—

Hoffentlich überstehen Sie diese schweren Zeiten ohne Gesundheitsschädigung. Wir Alten können jetzt kaum anderes tun als jeder in seinem rein wissenschaftlichen Geleise so gut es geht weiterzuarbeiten. Möchte Ihnen Ihre erstaunliche Arbeitskraft noch lange zum Segen unserer Wissenschaft und der europäischen Geisteskultur erhalten bleiben!

Ihr stets aufrichtig ergebener
KBrugmann


1 Die Wörter bis jetzt fast wurden oben der Zeile eingefügt.

2 Verkürzt geschrieben als u.

3 Verkürzt geschrieben als u.

4 Verkürzt geschrieben als Mskt.

5 Vor Mehrgliedrigkeit wurde ein Z getilgt (offenbar wollte Brugmann zunächst Zweigliedrigkeit schreiben).

6 Die Wörter bereits vorhandene wurden über der Zeile eingefügt.

7 Verkürzt geschrieben als u.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01416)