Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (159-10920)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

08. 11. 1918

language Deutsch

Schlagwörter: Die Neueren Sprachen Etymologielanguage Katalanisch Reisland, Richard Kammerer, Paul Vossler, Karl Gilliéron, Jules Ettmayer, Karl von Wien Bonn Österreich Gilliéron, Jules (1918)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (159-10920). Wien, 08. 11. 1918. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1761, abgerufen am 03. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1761.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 8. XI. 1918

Verehrter Herr Hofrat,

habe nichts von Reisland erhalten als eine Verständigung, daß sämtliche Angestellten grippekrank sind. Wenn Sie Sonderdrucke erhalten, denken Sie bitte an Kammerer und mich. Unterdessen haben Sie wohl Vosslers Rezensionen in Neu.Spr. gelesen – sie sind etwas spielerisch-ironisch: einem Michael Kohlhaas gegenüber, wie ich es bin oder sein möchte, ist die ironische Haltung natürlich die leichteste. Man sagt ihm: Regen Sie sich doch nicht auf, junger Mann! und klopft ihm auf die Schulter.

Das Novissimum ist tatsächlich schon da: Katal. Etym. – aber wo das drucken? – Heute erhielt ich Gilliéronsabeille,1 wo er sich mit meinen Rezensionen auseinandersetzt. – Das Dunkel ist jetzt groß: die größte Enttäuschung für mich ist es, daß der Feind, den ich als Abwesenden und moralisch Schwächeren stets verteidigt habe, auch unanständig ist wie es die deutschen Eroberungsgeneräle waren – kurz daß der Mensch ein raublustiges, gemeines Wesen ist. – Im Besonderen ist mein Fall jetzt traurig: in Wien nicht mehr habilitiert (Ettm. drückte mir ein heuchlerisches Bedauern darüber aus), in Bonn zwar habi|2|litiert, aber nicht lesefähig (da doch das linke Rheinufer besetzt wird), als ungarischer Soldat ein Feind Deutschlands und ein Fremder in Österreich, weiß ich nun gar nicht, wo ich hingehöre: Sie wissen, daß ich übernational denke, am ehesten mich aber natürlich als Deutschen fühle. Wer wird mir das aber glauben? Jetzt wird es heißen: Opportunist.... – Die Wilsonschen Prinzipien sind schön, nur der Nationalitätsgedanke, den sie betonen, ist ein Unglück für die Menschheit, die ihn nicht bloß als Quelle fruchtbaren Schaffens, sondern auch als Mittel zur Verdrängung des Nebenmenschen benützt.

Ergebenste Grüße
Spitzer


1 Jules Gilliéron, Généalogie des mots qui désignent l'abeille d'après l'Atlas linguistique de la France. Paris: Champion 1918.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10920)