Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (118-10879)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

14. 12. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für österreichische Gymnasien Bastian, Adolf Meyer-Lübke, Wilhelm Roques, Mario Tobler, Adolf Kammerer, Paul Vossler, Karl Ettmayer, Karl von Paris Meyer-Lübke, Wilhelm (1908)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (118-10879). Wien, 14. 12. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1706, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1706.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, Freitag

Verehrter Herr Hofrat,

Ich gebe ohneweiters zu, daß elementar in dem Sinn wie bei Bastian und Ihnen gebraucht werden kann – aber eben die Vieldeutigkeit und die ungotisch-naturphilosophische Abstammung des Wortes sind mir unsympatisch. Was sagen Sie, da ich nun einmal im Fremdwörterwesen drin bin und keine linguistisch verkappte Chauvinistenseele besitze, zu generell und originellverwandt? – Wäre Ihnen Begriffsbeziehungslehre lieber?

Also auch Streffleur kann's "assentieren" nicht brauchen, daher weiter wandern: Ztschr.f.öst.Gymn.! – Das Zitat über M-L erstaunt mich nicht: Das ist die französische Meinung, dasselbe hörte ich in Paris von Thomas, Roques etc. Dort schneidet aber auch Tobler nicht besser ab, und, wenn es Herrn Hofrat günstiger ergeht, so ist es gewiß nicht aus rein wissenschaftlichen Gründen, sondern aus ästhetischen. Daß Herr Hofrat einen besseren Stil haben als alle anderen Linguisten, frappiert einen Biologen wie Kammerer, der wieder aus ästhetischen Gründen seine Fachkollegen nicht ausstehen kann und jedesmal aufatmet, wenn er eine prinzipiell orientierte sprachwissenschaftliche Arbeit liest. Ich meine: Wissenschaft und Kunst sind zwei verschiedene Dinge. Herr Hofrat gebieten über beide, |2| Meyer-Lübke ist Nur-Wissenschaftler, Vossler Nur-Künstler. Es ist aber wohl ungerecht, wenn man die wissenschaftliche Beurteilung vom ästhetischen Gehalt bezieht oder umgekehrt. Damit will ich nicht leugnen, daß M-L viel unklare Stellen gestrichen hat, so besonders in fr.Gr.1 Vom Standpunkt der Dunkelheit erregte z.B. Ettmayer bei Jeanroy geradezu Wutausbrüche: "Est-ce que vous comprenez cela, vous allemand que vous êtes?" rief er aus. Und doch war die Ursache der Empörung ein sehr schöner Artikel, der in den Prinzipien fragen!

Ergebenste Grüße
Spitzer


1 W. Meyer-Lübke, Historische Grammatik der Französischen Sprache. Heidelberg: Winter 1908.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10879)