Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (106-10867)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

27. 10. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Positivismus (Sprachwissenschaft) Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Meyer-Lübke, Wilhelm Marty, Anton Jaberg, Karl Wundt, Wilhelm Kammerer, Paul Marbe, Karl Trombetti, Alfredo Morf, Heinrich Spitzer, Leo (1918)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (106-10867). Wien, 27. 10. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1694, abgerufen am 08. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1694.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 27. X.

Verehrter Herr Hofrat,

Mein Los ist nicht das Bessere. Sie haben Echo und finden es allerorten. Ich finde keines: außer von M.-L. wird keines meiner "Multa" (abgesehen von Rezensionen) irgendwo erwähnt. Nie hat sich ein Größerer oder Großer zu einer Diskussion mit mir herabgelassen – was übrigens von der Hierarchisierung unserer Universitätswelt herstammt: ein Ordinarius gegen einen Privatdoz. polemisieren – fi donc! Noblesse oblige. – Daher begreife ich den Marty, der so gern bei Sprachforschern Anklang gefunden hätte und nur auf das Echo von Jaberg stieß. Und doch versteht er das Wesen der Sprache ("absichtlich aber planlos") viel besser als der vergötterte Wundt, der viel von seinem Erfolg seinem Stil verdankt.

Mein "Schul"-Begriff ist dasselbe was Kammerer meinen "Militarismus" nennt. Ich bin – leider – ein Fanatiker der Wahrheit, der Pflicht, kurz jener gutbürgerlichen Dinge, die man seit Nietzsche belächelt oder deren Existenz man bezweifelt. Daher bin ich auch für Über- und Unterordnung, Meister-Schüler, Oberst-Mannschaft etc. – Übrigens habe ich heute die Inspektion unseres Generalstabschefs über mich ergehen lassen und bin daher weniger militaristisch ("scholarschisch", würde Dühring sagen) als sonst gestimmt.

Ihre Anregung, etwas übers Zitieren und Titulieren zu schreiben, hat gefruchtet. Ich habe einiges zu Papier gebracht. Aber wer nimmt so|2| etwas in Druck? Der Positivismus, der nur über Verschiebungen von Lauten und Textbesserungen zu reden gestattet, verbietet derlei Themen, die zum "genre petit" gehören, in dem man nicht "grand dans son genre" sein kann.

Das Ltbl. habe ich gebeten, meinen Marbe-Trombetti in Anbetracht des Erscheinens Ihrer Sprachvw. sofort zu veröffentlichen.1 Werde ich erhört werden?

Morf wirft mir bezüglich des Passus über Deutsches Wb usw. vor, der Ausdruck "mißverständlich" sei unrichtig die Sprache sei alogisch. Das weiß ich längst, ich wollte ja auch nur vor den Konsequenzen des Alogizismus der Sprache, den Qui proquos à la Nyrop warnen!

Ergebenste Grüße
Spitzer


1 Tatsächlich veröffentlicht das Literaturblatt für germanische und romanische PhilologieSpitzers Besprechung in der ersten Nummer des Jahres 1918 an prominenter Stelle (1-17).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10867)