Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (100-10861)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

26. 09. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Trombetti, Alfredo Kammerer, Paul Haeckel, Ernst Marty, Anton Vossler, Karl Schuchardt, Hugo (1917)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (100-10861). Wien, 26. 09. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1687, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1687.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien 26. IX

Verehrter Herr Hofrat,

Ich bin einfach niedergeschmettert von der Großartigkeit Ihrer letzten Abhandlung,1 die zum Schönsten gehört, was ich an Theoretischem und was ich di Suo pugno gelesen habe. Und man ist bekanntlich dann zur Bewunderung am ehesten gestimmt, wenn man selbst Ähnliches, jedoch nicht in annähernder Vollkommenheit, gedacht hat. Ich könnte weinen: alles ist bei Ihnen gesagt, was in meiner vor einer Woche an Neum. abgeschickten Trombetti-Besprechung steht: die Widerlegung des Schlusses A = B = C = ...etc., die Unterscheidung von Sprache und Sprachen, ja sogar die Widerlegung von geschichtlich und elementarverw. Welche gedankliche Klarheit und welche stilistische Meisterschaft haben Sie erzielt! Ich möchte den Militärdienst, die Zufälle meines Urlaubsdatums (in letzter Linie abhängig von einem Schreiber), alles Mögliche beschuldigen, daß ich Ähnliches nie zusammenbringen könnte – wohl wissend, daß es mir eben an den unguis Leonis (von dem ich nur den Namen trage) fehlt!

Über Kammerer und den Monismus in ihm, vielleicht auch überhaupt den Monismus, ist mein Urteil das folgende: Der Monismus ist stets mit etwas Gewaltsamkeit verbunden: wer die momentane Unzurückführbarkeit von Körper auf Geist u. umgekehrt erkennt, will die beiden Enden zusammenfügen – um jeden Preis. Daher erscheint mir der Dualismus nur als eine sanftere, ruhigere Spielart des Monismus. Ich bin insofern auch Monist, daß ich glaube, Geist und Stoff ließen sich irgendwo vereinen – aber nicht|2| im Bereich des Sichtbaren, Empirischen und ich bescheide mich dabei. Kammerer aber vergewaltigt die Dinge, indem er sie seinen theoretischen Anschauungen schon jetzt anpaßt. Dadurch wird er auch einseitig: der Klerus ist ein Feind des Monismus, daher ist er über­haupt kulturfeindlich usw. Vgl. damit die Darstellung des Papstes Alexander VI. als eines lüsternen Syphilitikers bei Häckel!

Finden Sie nicht in Marty einen der wenigen Sprachpsychologen, der mit der Sprachwissenschaft vertraut, mais là, ce qu'on peut appeler familier, ist? Trotz seines entsetzlichen Stiles lese ich ihn gern, so gerade in diesen Tagen seine Widerlegung Vosslers Ztschr.f.Psych. 55.

Ergebenste Grüße
Spitzer


1 H.S., "Sprachverwandtschaft", in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 8 (1917), 518-529.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10861)