Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (98-10859)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

19. 09. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Kammerer, Paul

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (98-10859). Wien, 19. 09. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1685, abgerufen am 31. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1685.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien 19. IX.

Verehrter Herr Hofrat,

Ihre Briefmüdigkeit mir gegenüber wird durch den schönen Brief hundertfach aufgewogen, den Kammerer von Ihnen bekommen hat. Alles, was Sie darin sagen, ist mir aus der Seele, aber mit besseren Worten als ich es könnte gesprochen. Kammerer ist ein Durch-die-Hand-Mensch, der die wissenschaftlichen Resultate direkt auf die Gegenwart anwenden möchte, ein bisschen rauflustig und umstürzlerisch, aber ein edler Kopf und ein gerader Mensch wie es keinen zweiten gibt. Von den Naturwissenschaftlern hat er die Verachtung der Geschichte ererbt – er haßt das Mittelalter, die gotischen Kirchen, die Kunst Raffaels versteht er nicht –, was umso merkwürdiger ist, als der Darwinsche Entwicklungsbegriff gerade zu einer Vertiefung des historischen Sinnes führen sollte. Offenbar wird Menschheitsgeschichte der Naturgeschichte (in anderm richtigerem Sinn als gewöhnlich [...]) als unterlegen angesehen, weil jene sich auf einen kürzeren Zeitraum erstreckt – natürlich ein kindischer Standpunkt. Kamm. ist Pazifist, aber à tout prix, ohne Rücksicht auf die Gewohnheiten jedes Augenblicks. Alles das hindert nicht, daß er mein einziger Freund ist, der einzige jüngere Mensch unter mir bekannten Österreichern, der neid- und gemeinheitenlos zu denken vermag!

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In den letzten Tagen dachte ich darüber nach, daß eigentliche Beziehungen, ich meine ein Gedankenaustausch, zwischen Herrn Hofrat und mir erst mit Kriegsausbruch begannen – oder irre ich mich? Ich glaube, ich war Herrn Hofrat zu positivistisch, zu forscherkrambegeistert, weniger prinzipiell gestimmt als ich es jetzt bin. Ich glaube selbst, der Krieg hat mir – wie vielen Menschen – einen weiteren Blick in das Welt- und damit das Sprachgeschehen erschlossen, ich habe erst durch ihre Probleme sehen gelernt.

Oder soll ich die Literaturforschern bequeme Anlaßhypothese anwenden, daß Urania-Vorträge mich zu den Urproblemen hindrängten?

Ergebenste Grüße
Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10859)