Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (90-10852)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Semmering

21. 08. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Becker, Philipp August Haeckel, Ernst Österreich Trombetti, Alfredo (1905) Marbe, Karl (1916) Schuchardt, Hugo (1888) [o. A.] (1910)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (90-10852). Semmering, 21. 08. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1678, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1678.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Semmering, 21/8.

Verehrter Herr Hofrat,

Die Stelle bei Ploss kann ich nicht angeben, da meine Schriften nicht hier sind. – Für mich ist boche moche noch immer allemoche = allemand. Die Zusammenstellung der Etymologien des Wortes bei Tallpolet [?] kennen Sie wohl?

Becker ist tatsächlich berufen worden (es stand in den reichsdeutschen Blättern) und ich glaube, es dreht sich nur mehr um Finanzielles (ob nämlich Österreich so viel "gibt" wie Sachsen).

Ich lese auch Trombetti's bekannte Bücher1 wieder und finde, er hat Marbe's "Gleichförmigkeit der Welt"2 übersehen: aus den Ähnlichkeiten aller Sprachen folgt nicht notwendig deren Verwandtschaft, sondern die Beschränktheit der möglichen Kombination auf dieser Erde. Außerdem ist sein Rückfall in die "Ursprache", doch heute nicht mehr glaublich. Eher wäre von geographischer Abänderung als von Stammbaum zu reden.

Nach ihm wären die "Wurzeln" wirklich einmal gesprochen worden, während wir sie umgekehrt als spätere Analysen erkennen. Die Zahl von 50.000 Jahren, auf die die menschliche Sprache zurückgeführt wird, deckt sich nicht mit der von Häckel angenommenen Entwicklung der menschlichen Sprache in Millionen von Jahren usw.

Besitzen Herr|2| Hofrat ein Exemplar Ihres "Aus Anlaß von Volapük"3? Dann würde ich Sie gern darum "wurzen". – Irgendwo, schwant mir, schrieben Herr Hofrat, zwei Etyma könnten für ein Wort angenommen werden. Ich brauchte die Stellenangabe für meinen fleurs-Artikel. Könnten mir Herr Hofrat auch hiemit aushelfen?

Ergebenste Grüße
Spitzer

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Herrn Hofrat Hugo Schuchardt4

1) In Mel. Wilm. S. 233 und 241 wendet sich Horning5 gegen die Etymologie frondea aus einem lautlichen Grunde: "Nach n werden demnach ge (i) und di zu z [prandium >prãzrü m. Anm. Spitzers], während bei anderer lautlicher Grundlage sich dž einstellt, mẽd ži (manger), tš ẽdži (changer), fr ŏdž".

2) Falls Herr Hofrat Grandgagnage hätten und falls er die Etym. von daser erwähnt, wäre ich dankbar für Hinzufügung.

Herzlichste Grüße
Spitzer


1 Zum Thema der Ursprache hat Alfredo Trombetti ein ebenso viel zitiertes wie umstrittenes Werk geschrieben: L'unitá d'origine del linguaggio. Bologna: Treves 1905.

2 Karl Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt: Untersuchungen zur Philosophie und positiven Wissenschaft. München: Beck 1916ff. (Mehrere Bände).

3 H.S., Auf Anlaß des Volapüks. Berlin: Oppenheim 1888.

4 Die folgenden beiden Notizen finden sich auf einem isolierten halbbeschriebenen Blatt ohne Datum. Sinngemäß ist es nicht ein eigenständiger Text, sondern als Beilage zum vorliegenden Brief zu verstehen.

5 Die Mélanges de philologie romane et d'histoire littéraire offerts à M. Maurice Wilmotte; vgl. Brief 88.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10852)