Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (84-10846)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

11. 06. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: language Spanischlanguage Italienisch Vossler, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Ettmayer, Karl von Maver, Giovanni (Hans) Kammerer, Paul Lommatzsch, Erhard (Hrsg.) (1917)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (84-10846). Wien, 11. 06. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1671, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1671.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Wien, Sonntag

Verehrter Herr Hofrat,

Nichts ist belustigender als die eigenen Erzeugnisse im Spiegel der Psyche der Mitmenschen zu sehen. Vossler antwortet auf meine Besprechung an M.-L., ich hätte die Sache zu ernst genommen, er habe den Artikel im Berl.Tgbl. aus "journalistischem Übermut" geschrieben (gleichzeitig werfen mir Herr Hofrat "zu tiefes" Denken vor – ein Vorwurf, der in meinen Augen ein Lob bedeutet). Ettmayer wieder äußert zu Dr. Maver, er "lese" das Berl.Tagbl. nicht (das soll wohl ein Angriff sein?!), außerdem habe er meinen Artikel nicht "verstanden" (auch das wieder ein Angriff?!). Kollege Kammerer findet, wir Linguisten seien doch "bessere Menschen", da auch Zeitungsartikel in wissenschaftl. Zeitschriften besprochen werden – ich konnte auf Ihren Ausspruch vom Sich–Emporringen des Ltbl. zur schönen Literatur verweisen. C'est la vie. – Übrigens ist die Korrektur (Umstellung Realisten-Nominalisten) einfach nicht vorzunehmen, dann stimmt alles für den, der Vosslers Artikel gelesen hat.

Ich habe bei assentieren semantisch gedacht: assentieren kann nicht 'zustimmen' sein, sondern nur 'einreihen'. Mein *sedentan|2|ist also nicht so sehr etymologisch als semantisch zu nehmen. Daß span. asentarse noch besser paßt als ital. assentarsi sei gern zugegeben und wird auch coram publico ingrato betont werden.

Gegenwärtig habe ich keine Arbeitsfreude. Der Sommer, die Liebe, der man Lommatzsch' Provenz. Liederbuch1 verehrt, dieses Liederbuch, das man liest, um seine Liebe drin zu finden, die Leitung der Zensurgruppe etc. – Das alles läßt einen daran verzweifeln, daß man je wieder Gescheites wird arbeiten können.

Alles Liebe, verehrungsvolle Grüße
# Sp


1 Erhard Lommatzsch (Hrsg.), Provenzalisches Liederbuch. Lieder der Troubadours mit einer Auswahl biographischer Zeugnisse, Nachdichtungen und Singweisen. Berlin: Weidmann 1917.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10846)