Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (73-10835)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

17. 04. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Anthropos Lautgesetzelanguage Lateinlanguage Französisch Bréal, Michel Meyer-Lübke, Wilhelm

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (73-10835). Wien, 17. 04. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1660, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1660.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 17. IV.

Verehrter Herr Hofrat,

"das seelische Verhalten des Redenden ändert sich" – heißt das nicht dasselbe wie Spr.424: "der "triebhafte" Charakter des Verbs 'wünschen' bestand auch im Lateinischen, aber erst das Französische hat das Bedürfnis gefühlt...": "das Französische" = der Französisch-Redende. Der zitierte Anthropos-Artikel ist mir nicht gegenwärtig im Augenblick.

Die Polemik gegen die Lautgesetzler ist mir stets aus der Seele gesprochen: denn das sind doch dieselben Menschen, die auf anderen Gebieten die Tabulatur-Enthusiasten, die Moralfexe, die Militaristen dar­stellen: sich stützend auf den Buchstaben eines heiligen Gesetzes, dessen Sinn ihrem beschränkten Kopf nicht faßlich ist.

Ganz richtig, was ich am Etymologisieren als "Schlafen Homers" auffasse (wobei Homer = Wissenschaft), ist dessen Zufalls- und Einfallscharakter. Immerhin sollte man Zufall der Material­beschaffung und Zufälligkeit des Einfalls scheiden: ersterer liegt|2|im Wesen der etymolog. Forschung, letztere dagegen, wenn auch manchmal Folge der ersten Erscheinung, muß nicht vorhanden sein. Ich finde z.B., daß Bréal jeden Einfall zu Papier brachte wie einen Aphorismus, sich an der ästhetischen Schönheit der geistreichen Zusammenstellung erfreuend. – Diese Art der Etymologie steht noch im Zeitalter Potts etc., sie muß ersetzt werden durch eine möglichst lückenlose Forschung: Ihr malifatius ist mir hier immer als vorbildlich erschienen!

Merkwürdig: auch M.-L. legt nach Mahlzeiten Patiencen. Ich bin leider nicht so idyllisch veranlagt! Doch Schluß, denn die Papier- und Geistesfetzen fliegen nur so!

Ergebenste Grüße
Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10835)