Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (63-10825)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

02. 03. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Meyer-Lübke, Wilhelm Tobler, Adolf Wechssler, Eduard Behrens, Dietrich Stimming, Albert Appel, Carl Maver, Giovanni (Hans)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (63-10825). Wien, 02. 03. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1650, abgerufen am 10. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1650.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 2/III

Verehrter Herr Hofrat!

Sie halten noch beim zahmen "Schwarm", ich bin schon zu den Lüsten der "Cocotte" herabgestiegen. Was sagen Sie zu dieser Dame?

Sie fragen mich nach der M.-L.-Methode. Die M.-L.-Meth. gibt es nicht, sondern die "Methoden" = wissenschaftliche Methoden, die M.-L. seinen Schülern beibringt. Bei vorzugsweise historisch-konstruktiv orientierter Forschungsweise hält M.-L. seine Schüler vor allem zu sachlichem und fleißigem, streng wissenschaftlichem undilettantischem Arbeiten an. Er bevorzugt nicht etwa ein bestimmtes Gebiet wie Tobler, er läßt jedem Schüler sein Interesse, sucht ihn aber auf diesem wissenschaftlich zu fördern. Das scheint einfach und unoriginell – und ist es doch nicht. Toblers Schüler sind lauter Tobler-Miniaturen, ebenso die Wechsslers. Sind aber Bartoli, Puşcariu, Richter – und ich Meyer-Lübkes? M.-L. steift seinen Schülern das eigene Rückgrat! – Wo sind die Scharen von Autodidakten, denen Sie Erwähnung tun? Ist auch nur ein Handbuch, wenigstens in der romanischen Linguistik, von einem Autodidakten verfaßt? – Es gibt nicht nur Hörer mit aufgesperrten Fischmäulern, sondern geistreich dasitzende Kritiker, die den Professor gewissermaßen in Anklagezustand versetzen. Wenn ich Herrn Hofrat ehrlich meine Meinung sagen soll, so glaube ich, daß doch unterbewußte Gründe für Ihre dauernde Unterschätzung Meyer-Lübkes verantwortlich sind. Warum dem jüngeren Kollegen nicht das lassen, was ihm eignet? Eine kolossale Arbeitskraft, eine Fähigkeit zur Assimilation des Fremden, wie sie an Goethe erinnert, dabei eine Fülle von Gedanken und vor allem der Atem, der große Werke trägt. Wo sind außer Ihnen in Deutschland noch große Vertreter unserer Wissenschaft? Sollen etwa Morf, Behrens, Stimming oder Spezialisten wie Levy und Appel in Betracht kommen? Warum wehren Sie sich gegen die unleugbaren Lehrerfolge M.-L.'s, die ihn befähigen, in jedem Nest, wenn es sein sollte, die Romanistik "auf den Damm zu bringen"? Warum arbeiten nicht alle Gelehrten, und gerade die großen, harmonisch|2|auf ihren Wegen, statt hinzugucken ob der parallel arbeitende Mitforscher schon vorwärtsgekommen sei, welches Stück etc.? – Meine offene Meinung ist diese: Schuchardt ist der Sprachforscher κατ΄ εξοχήν, Meyer-Lübke der konstruktive Romanist, also mehr Sprachvergleicher. Schuchardt ist Anreger, Meyer-Lübke Lehrer. Schuchardt hat mehr menschliche Interessen, dafür ist M.-L. vorbildlich in seinem sittlichen Ernst und seiner wissenschaftlichen Askese – Gut! Aber warum sollen diese "zwei Kerle" nicht nebeneinander wirken? Ich hoffe, Herr Hofrat verargen mir nicht meine Offenheit. Aber wenn meine nicht wenigen Feinde (zu denen die ganze Romanistik Österreichs mit Ausnahme von Herzog und Maver gehört) eines an mir anerkennen müssen, so ist es die rücksichtlose Aussprache meiner Meinung, unbekümmert um Nutzen oder Schaden.

Darf ich bald was von Ihnen vernehmen?

Ergebenste Grüße
Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10825)