Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (62-10824)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

26. 02. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Magyar Nyelvörlanguage Portugiesischlanguage Italienischlanguage Arabischlanguage Französisch Ettmayer, Karl von Schweiz Schmeller, Johann Andreas (1827–1837) Nyrop, Kristoffer (1916)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (62-10824). Wien, 26. 02. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1649, abgerufen am 19. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1649.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 26. II. 1917

Verehrter Herr Hofrat,

Das corpus vile wird wohl unter großen Schmerzen geboren werden. Ein Ms. liegt in der Schweiz – tot oder halbtot; ein anderes soll ich für Manz herstellen, ich bin aber gebärensfaul. Dunque? – Das ungar. Et. Wb. soll erschienen sein, das entnehme ich den Zusatzbemerkungen zu späteren Artikeln im MNyr. Eine Bestellung im Dez. 1916 hat mir die Lieferungen noch nicht zu verschaffen gewußt. – "Der Kapitalismus in der Wissenschaft", so würde ein Sozi Ihre Klage über den Zusammenhang von Kaufkraft und wissenschaftliche Arbeit betiteln. Aber liegt nicht unserem ganzen wissenschaftlichen Betrieb etwas Kommerzielles zugrunde, das Mehr-sagen-wollen, Mehr-finden-wollen als der andere, das Beleggeschacher ('hast Du 3 Belege, so habe ich 15', Tobler'schule'!) usw.? – Der systematischen Knebelung der Individualität bin ich wohl am wenigsten verdächtig, da ich selbst mich in keine "Schule" einreihen lasse. Ich bin weder nur-Historiker noch nur-Stilist noch nur-Syntaktiker. Und dieses "nur" ist doch das Schulmäßige. In Berlin macht man syntaktische Studien, in Paris gibt man Texte heraus, in München betätigt man sich stilistisch – das nenne ich Schule. Das hindert jedoch nicht, daß ich selbst geschult worden bin. Ich glaube nämlich, in jedem Forscher müsse ein Schüler und ein Meister stecken: in dem Maße als das Schülerhafte verschwindet, kommt das Meisterhafte herauf. Ohne diese Schulperiode würden wir ausschweifen ins Uferlose (vgl. Sie Goethes Bemerkungen über die Notwendigkeit der Erlernung des Handwerks in der Kunst!): das tut z.B. der sonst so fähige |2| Ettmayer!

Ich habe einigem etymologischem Wild nachgepirscht. Zu Ihren Bemerkungen über cucuma (ptg. cogomilo 'Erdschwamm' etc.) füge ich wienerisch Kuckenmucken (auch bei Schmeller1 zu finden). – Zu Ihrem it. caffo = arab. gafa stelle ich frz. gaffe 'Ungeschicklichkeit': entweder Entlehnung, oder falls das Etymon doch Baists hebräisches Wort ist, wie berlin. kaff aus dem Rotwelsch der Krämer. In einem frz. Roman finde ich un impair, une gaffe zusammengestellt. Impair hat dieselbe Bedeutungsentwicklung und gaffe bedeutet nach Villatte Parisismus u.a. auch einen ruinösen Zug im Spielerargot.

Ergebenste Grüße
Spitzer

Nyrops Bemerkungen2 über on sind ziemlich flach und begeisterten mich zu einer Studie über man=wir. Ergebenste Grüße Spitzer


1 Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch. Stuttgart: Cotta.

2 Kristoffer Nyrop, "Etude syntaxique sur le pronom indéfini 'on'", in: Oversigt over det kgl. danske Videnskabernes Selskabs Forhandliger 1916, S.169-179 (in derselben Nummer hat Nyrop weitere Reflexionen zum Thema angestellt; s. ebd., S.321-327).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10824)