Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (61-10823)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
24. 02. 1917
Deutsch
Schlagwörter: Meyer-Lübke, Wilhelm Daudet, Alphonse (1876)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (61-10823). Wien, 24. 02. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1648, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1648.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Wien, 24/II
Verehrter Herr Hofrat,
Ich führe jetzt eine längere briefliche Polemik mit M.-L., dessen Ableitung von cocotte aus cucumasion im REW ich bekämpfe, während er daran festhält. Meine Argumente sind der Hauptsache nach folgende: für cocasse ist die Entwicklung 'Kochtopf, Weingefäß' > 'betrunkene lächerliche Frau' in der Schweiz belegt. Bei cocotte haben wir nur die Bdtg. 'Kochtopf'. Nirgends also die Entwicklung zu 'betrunkene Frau', anderseits heißt cocason nirgends 'Dirne'. Ich nehme also Femininum zu coco an und die Entwicklung der Bdtg. 'Hühnchen' (ma petite cocotte) > 'Liebchen' > 'Dämchen'. M.-L., der mit 'Dirne' (fälschlich) übersetzt, meint, der letztere Übergang sei unmöglich. Ich als ein in Liebessachen nicht Unbewanderter halte ihn für ohne weiteres möglich: ich sage zu ihr Katzerl, dann auch von ihr: ich hab mir ein Katzerl aufgezwickt. Bezeichnend ist ein Passus im Jack von Daudet1, wo ein französisches Kind, über cocotte gefragt, als Bdtg. nur 'Huhn' versteht, weil es die Lebedame-Bezeichnung noch nicht kennt (nicht etwa 'Kochtopf'). Wissen Herr Hofrat noch was? Das Belegmaterial der Wb. kenne ich natürlich.
Ergebenste Grüße
Spitzer