Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (58-10820)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

19. 02. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Frankreich Herzog, Eugen (1913) Gohin, Ferdinand (1903) Gombocz, Zoltán/Melich, János (1914)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (58-10820). Wien, 19. 02. 1917. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1645, abgerufen am 09. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1645.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien, 19. II.

Verehrter Herr Hofrat,

"Süßigkeiten" sage ich nicht gerne, auch Frauen nicht. Es waren auch nicht "verzuckerte Pillen" gemeint. Ich glaube tatsächlich, auch wenn die Synchronie noch nicht ihre Gesetze gefunden hat, sie dennoch als Wissenschaft bestehen kann: die Stilistik – die ja auch diachronisch ist – gibt es schon lange, wenn auch ihre Gesetze noch lange nicht festgelegt sind. Eine diachronische Lautbeschreibung ist z.B. Herzogs "Gruppenlehre".1 Daß natürlich das Historische stets ins Deskriptive hineinspielt, ist schon deshalb klar, weil in jeder Sprachperiode 2 und mehrere Sprachweisen, ältere und jüngere, koexistieren. Toblers Synchronie ("Beschreibung", sagt Lommatzsch)2 ist die künstliche Immobilisierung der Bewegung von 4 altfrz. Jahrhunderten.

Trotz der Verkehrsstörungen habe ich gerade jetzt F. Gohin's Transformations de l.l.frç. en 18ième siècle3 direkt aus Frankreich erhalten, allerdings ist Frankreich nun mehr benachbart als Budapest, aus dem ich seit Anfang Dez. die Lieferungen des Gombócz-Melich'schen Wörterbuches4 nicht erhalten kann.

Die Äußerung Ihres Hauptmanns ist nicht vereinzelt, blickt übrigens auf eine lange Armeetradition zurück: in Friedenszeiten sagte um 1910 ein Honved-Oberst zu mir bei einer Superarbitrierung: "Philosophen können wir im Heer nicht brauchen". Damals reinigte man die Armee von diesem Aussatz, jetzt nur die Kaders, damit nur Gott behüte die Intelligenz diesen Krieg nicht überlebe. In diesem Kriege hörte ich von einem anderen Offizier folgende Fragestellung: "Dr.Sp. – wo sind Sie geboren - - - haben Sie Matura? – Was für Sprachen sprechen Sie" (Hierauf Aufzählung).

Später teilte er mit, als er erfahren habe ich sei Universitätslehrer: "a darum sprechen's so viel Sprachen? Ich hab glaubt, Sie sein Reisender". – Ein 19jähriger Fähnrich aber sagte mir 30jährigem |2|anläßlich des Herabrutschens des Bajonetts: "Sie Einjähriger, Sie sehen aus wie a Hur, die am Preßburger Schloßberg 12 Nummern gemacht hat". Sic!

Und mit diesem Mißakkord schließe ich die Sonntagspredigt, die dem Mensch, dem Weltenlauf, Allem gemeint ist

Ergebenste Grüße
S


1 Eugen Herzog, Historische Sprachlehre des Neufranzösischen, Bd.1: Einleitung und Lautlehre. Heidelberg 1913.

2 Erhard Lommatzsch ist Herausgeber der Toblerschen Schriften. Vgl. den vorhergehenden Brief.

3 Ferdinand Gohin, Les transformations de la langue française pendant la deuxième moitié du XVIIIe siècle (1740-1789). Paris: Belin frères 1903.

4 Zoltan Gombocz und Janos Melich, Lexicon critico-etymologicum linguae Hungaricae. Magyar etymologiai szotar. Budapest 1914.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10820)