Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (44-10806)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

01. 12. 1916

language Deutsch

Schlagwörter: Meyer-Lübke, Wilhelm Wien

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (44-10806). Wien, 01. 12. 1916. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1615, abgerufen am 08. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1615.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien 1. XII. 1916

Verehrter Herr Hofrat,

Ich bin wohl und daher wieder kampfbereit. Was heißt das "heuchlerische Politik"? Ist nicht jede Politik heuchlerisch? Vide restaurationum Poloniae! Muß Politik nicht macchiavellistisch sein? Ist nicht jeder Geschäftsmann im Privatleben heuchlerisch – wie ein Engländer oder Amerikaner? Und wie erst jene Großbörsenjobber, die die Staaten sind! Bismarck hat doch gelehrt und Hardin wiederholt es tagtäglich, daß Moral und Politik ebenso inkommensurabel sind wie Moral und Kunst. Und Politik wird ja doch als "Staatskunst" verdeutscht. Eine andere Frage ist, ob nicht jene "Politik", die bisher das Junkermonopol aller Staaten ist, als Ganzes abgeschafft und durch Arbeit von Nicht-Imperialisten, Nicht-Ordensträgern, Nicht-Funktionären etc. ersetzt werden sollte – zum Heil der Menschheit!!!

Lassen Sie sich, Herr Hofrat, durch die paar Druckfehler nicht verdrießen. Wir (ich meine die Fachgenossen) werden den Artikel eines "Menschen" "mit seinem Widerspruch" auch so gerne lesen!

Ich bin allerdings auf die "Wisssenschaft" nicht gut zu sprechen, ich meine natürlich ihre Vertreter. In Wien fühle ich mich nach M-L's "Heimgang"1 recht isoliert. Wo keine Liebe, da keine ertragreiche Arbeit. Und daß meine|2| sg. Fachgenossen mich lieben, könnte ich wahrhaftig nicht behaupten. Diese Welt ist eine Welt der Parteien, der Nationalismen, des schäbigen Ellbogen-Egoismus, etc. – Die Wissenschaft, weit entfernt, die Menschen zu läutern, erniedrigt sie, indem sie oft nur eine verkappte Form des Dünkels, der Gewinnsucht und des Neides vorstellt. – Mit dem Wachsen des Wissens schwindet fast in der Regel der Charakter. – Dies bitte nehmen Sie als einen Stoßseufzer, der einer nunmehr dauernden Lebensstimmung entspringt!

Ergebenste Grüße

Spitzer


1 Meyer-Lübke war von Wien nach Bonn übersiedelt. Spitzer verwendet die Anführungszeichen wohl weil Meyer-Lübke eigentlich Schweizer, seine Frau allerdings Deutsche war.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10806)