Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (24-10787)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Wien

23. 11. 1915

language Deutsch

Schlagwörter: Publikationsvorhaben Persönliche Treffen Ettmayer, Karl von Gamillscheg, Ernst Wien Graz Spitzer, Leo (1920) Spitzer, Leo (1921) Kammerer, Paul (1919)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (24-10787). Wien, 23. 11. 1915. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1591, abgerufen am 31. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1591.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Wien I. Bräunerstraße 10, T. 15, 23. Nov. 1915

Verehrter Herr Hofrat,

Ihre liebe Anfrage sei schleunigst beantwortet. Mir geht es derzeit, nach mannigfachem Hin und Her, up and down, wie es beim Militär unvermeidlich ist, ausgezeichnet; ich bin nicht nur in meiner Vaterstadt, sondern auch in befreundetem Gebiet: zwar nicht bei der Romanistik, aber immerhin bei etwas, das auf der Brücke zwischen Militär und Romanistik steht, nämlich bei der italienischen Zensur.

Beim Militär nur Zugführer, bin ich bei diesem romanistischen Militär oder dieser militärischen Romanistik Gruppenleiter-Stellvertreter und werde bald Gruppenleiter werden, handhabe eine bei der Compagnie unerhörte Disziplin und schufte und arbeite selbst circa 10 Tagesstunden, treibe es also ärger mit der Überarbeitung als im zivilsten Zivil. Aber ich bin mit Begeisterung bei der Sache und suche das|2| rein menschliche Interesse mit den wissenschaftlichen – und vor allem – das ist das Schwerere! – mit der Staatsnotwendigkeit in Einklang zu bringen; außerdem sammle ich besonders originelle Psyche- und Dialektproben und vielleicht wird sich daraus ein ganzes Referat herauskrystallisieren. Psychische Dialekte gibt es übrigens in dieser ganzen Gefangenenkorrespondenz nicht: alle Nationen und Nationenteile reden dieselbe Sprache in verschiedenen Sprachen (oder Dialekten), die Sprache des Hungers und der Sehnsucht, der Liebe zum Frieden und zur Heimat.1

Mein wissenschaftliches Gehirnzentrum steht sonst stille. Mit Interesse verfolgte ich die Carriere v. Ettmayers und die eben werdende Gamillscheggs.

Darf ich etwas wissen über Herrn Hofrat – als Revanche? Vorallem über Gesundheitszustand und Arbeitsstand? Die Druckerpressen schweigen, wohl nicht die feine festgefügte Feder, mit der Hugo Schuchardt seine festgefügten, alterumgebensten Charaktere zieht. Darf ich davon hören?

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Leider hat der Krieg nicht nur die internationalen, sondern auch die innernationalen Bande zerrissen: wir schreiben nicht mehr unseren Feinden, aber auch unseren Freunden nicht mehr – denn auch sie kämpfen im Feld und haben längst alle Schreibtischfreuden vergessen gelernt. Im Gegensatz zu vielen Hallohrufern im Streit denke ich mit Grausen an die Zeit nach dem Kriegesfest, nicht nur wegen der zertrümmerten Gliedmaßen, die wir zu sehen bekommen werden, sondern auch wegen der Überhebung des Körpers, der Verachtung aller Kultur und allen Raffinements, die losbrechen und alles Geistige mit den Keulen der Zahl und der Wucht der Dimensionen erschlagen wird. "Europeens Riesenkatzenjammer" wird sich das betiteln können.

Wenn Herr Hofrat eine kleine Reise nach Wien machen sollten, so bitte ich Sie – ist das unbescheiden! – mir ein kleines Kärtchen mit einer Verständigung zu schicken, damit ich Sie besuche. Leider komme ich jetzt diensthalber nicht so bald nach Graz!

Ergebenste Grüße und alles Innige von

Leo Spitzer


1 Spitzer verbrachte den Großteil seines unfreiwilligen Militärdienstes während des Weltkriegs bei der Zensurbehörde, wo er die Korrespondenz italienischer Kriegsgefangener zu kontrollieren hatte. Er hat das Material aus dieser Arbeit in verschiedene Publikationen eingebracht; vgl. insbesondere Die Umschreibungen des Begriffes 'Hunger' im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial. Halle a.S.: Niemeyer 1920, sowie Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zu einer Charakteristik der volkstümlichen italienischen Korrespondenz. Bonn: Hanstein 1921. Siehe auch Veröffentlichungen seines Jugendfreundes und Zensurkollegen Paul Kammerer (etwa: "Meine Ansichtskartensammlung", in: Der Friede vom 10.1.1919).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10787)