Hugo Schuchardt an Hermann Paul (2-acc_V_14636_1)

von Hugo Schuchardt

an Hermann Paul

Graz

04. 03. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Methodologie Lautgesetze Junggrammatiker Wissenschaftstheoretische Reflexion Logik (Wundt) Prinzipien der Sprachgeschichte (Paul) Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze Wundt, Wilhelm (1883) Schuchardt, Hugo (1885) Wundt, Wilhelm (1894) Wundt, Wilhelm (1895) Wundt, Wilhelm (1886) Paul, Hermann (1880) Paul, Hermann (1886)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Hermann Paul (2-acc_V_14636_1). Graz, 04. 03. 1886. Hrsg. von Johannes Mücke (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1356, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1356.


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Graz, 4 März 1886

Verehrter Herr College!

Ich bin Ihnen für Ihre Mittheilung sehr verbunden. Meine Ansicht ist die daß zur Beseitigung einer wissenschaftlichen Divergenz man auf eine allgemeine, neutrale Basis zurückgreifen muß. In unserm Falle – da es sich um eine Methode handelt – vermag ich eine solche Basis nur in der Logik zu erblicken, die ich im W. Wundtschen1 Sinne als allgemeine Methodenlehre |2|fasse. Daß nun bei der speziellen Methodenlehre es auch darauf ankomme, von welchem Beobachtungsmaterial man ausgehe, wie man dasselbe verarbeite das will ich ja nicht läugnen; aber wenn in Bezug auf diese Ausgangspunkte und auf die Verarbeitungsweise ein Meinungszwiespalt besteht, so sehe ich nicht ein wo derselbe gelöst werden sollte wenn nicht  vor dem Forum der Logik.

Ich bin der Meinung – und ich habe derselben schon in meiner Broschüre2 Ausdruck gegeben – daß zwischen Ihnen und mir die Verschiedenheit der Auffassung |3|bezüglich der Konstanz der Lautgesetze keine allzugroße ist, und nachdem Sie nun neuerdings ein Gebiet zugeben für welches die Ausnahmslosigkeit sich nicht erweisen lasse, so sind Sie auf demselben Standpunkt wie ich angelangt; d.h. im Allgemeinen – im Besondern mögen noch Differenzen obwalten. Jedenfalls aber ist die Differenz Ihres heutigen Standpunktes von Ihrem früheren von welchem aus Sie die Lautgesetze als Naturgesetze ansprachen, eine weit größere.

Kurz, ich sehe nicht ein warum Sie, besonders da ich ja |4|selbst mehrfach, und in warmer Weise, meine Zustimmung zu Ihren "Principien"3 zu erkennen gegeben habe, – die Sache so darstellen als ob eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns bestünde.

Wenn ich mir das psychologisch verständlich machen will, so kann ich das nur, indem ich annehme daß Sie die früher insbesondere von Osthoff4 ausgesprochenen Anschauungen nicht in so rückhaltloser Weise desavouiren wollen als sie das, zur Förderung der Klarheit, verdienten.

Der Eine wie der Andere von uns wird in dieser Sache wohl noch manches Wort reden; seien Sie versichert daß meine Gesinnungen durch den wissenschaftlichen Streit in keiner Weise alterirt werden, und sollten wir uns wirklich in diesem Punkte nicht vereinen können, so werden wir uns doch hoffentlich der Gemeinschaft in vielen andern erfreuen.

Mit besten Grüßen

Ihr ergebenster

Hugo Schuchardt


1 Schuchardt rekurriert hier wahrscheinlich konkret auf den zweiten Band Methodenlehre von Wilhelm Wundts Logik (Wundt 1883), auf die er sich auch in Ueber die Lautgesetze direkt bezieht (Schuchardt 1885: 2, HSA 172). Der Psychologe und Wissenschaftstheoretiker Wundt (1832-1920) korrespondierte sowohl mit Paul als auch mit Schuchardt, im Nachlass Wundts sind ein Brief Pauls sowie mehrere Briefe Schuchardts vorhanden, im Nachlass Schuchardt finden sich fünf Schreiben (katalogisiert mit den Nummern 12896-12900, der Briefwechsel zwischen Schuchardt und Wundt befindet sich derzeit in Bearbeitung). Die Kontroverse um die Ausnahmslosigkeit beschäftigte auch Wundt. In der Methodenlehre der zweiten Auflage der Logik, erschienen in zwei Teilen (Wundt 1894, 1895), nimmt Wundt in der Logik der Geisteswissenschaften an zwei Stellen ausführlich Stellung dazu und bezieht sich u.a. auch auf Schuchardt und Paul (Wundt 1895: 140, 358; das Exemplar der Fachbibliothek Mathematik der Universität Graz [Signatur 97:W965] trägt Schuchardts Exlibris). In Schuchardts Manuskriptnachlass (unter der Nr. 25.3.1.2) findet sich weiterhin ein Aufsatz Wundts mit dem Titel "Ueber den Begriff des Gesetzes, mit Rücksicht auf die Frage der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze" (Wundt 1886) zur Thematik.

2 Gemeint ist Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker ( Schuchardt 1885, HSA 172).

3 Gemeint sind die Prinzipien in erster Auflage (Paul 1880). Das Werk erfuhr im Verlauf des Jahres 1886 eine zweite Auflage, deren Vorwort auf "Juni 1886" datiert (Paul 1886b).

4 Im Nachlass Schuchardts befinden sich drei Schreiben Hermann Osthoffs (verzeichnet mit den Nummern 08420-08422) aus den Jahren 1897, 1902 und 1906, die Korrespondenz wurde im HSA ediert von Mücke (2015).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek der LMU München/Nachlass Hermann Paul. (Sig. acc_V_14636_1)