Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (170-B76_15)
von Hugo Schuchardt
22. 02. 1903
Deutsch
Schlagwörter: Premio dei Lincei Baskische Studien Georgisch
Kaukasische Sprachen
Semitische Sprachen
Hebräisch
Arabisch Bonelli, Luigi Trombetti, Alfredo Giacomino, Claudio Neapel Ägypten Triest Mailand Port Said Trombetti, Alfredo (1902) Trombetti, Alfredo (1903) Trombetti, Alfredo (1902)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (170-B76_15). Assuan, 22. 02. 1903. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1321, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1321.
Assouan, 22 Februar 1903
Verehrter Freund,
Als ich Ende Dezember in Neapel weilte um mich nach Ägypten einzuschiffen, befragte ich L. Bonelli wann der Schluss seiner Maltaschen Studien die mich sehr interessieren, erscheinen würde. Er meinte, dass das nur von Ihnen abhinge, der Sie seit lange - ich glaube seit zwei Jahren - im Besitz der vollständigen Hs. seien.
Noch mehr interessiere ich mich für eine andere Angelegenheit, die, wenn nicht ausschliesslich, doch wohl zum wesentlichsten Teil in Ihren Händen liegt. Ich meine die Entscheidung über die Arbeit Trombettis, mit welcher er sich um den grossen Preis der Lincei bewirbt.1 Er ist im verflossenen Sommer mit mir in Briefwechsel getreten und hat dann, mit meiner Erlaubniss, einen offenen Brief im Giornale della Società asiatica an mich gerichtet.2 Ich hege den Wunsch darauf zu erwidern, und muss es auch; denn in Bezug auf |2|die allgemeinen Probleme fallen unsere Standpunkte doch nicht ganz wie man vielleicht nach seinem Briefe annehmen könnte, zusammen und ich habe den meinigen erst noch darzulegen; sodann bleibt mir auch im Einzelnen Manches zu bemerken. Ich werde aber die Entscheidung bezüglich des Preises abwarten, um nicht etwa irgend ein Vorurteil gegen ihn hervorzurufen. Schon jetzt aber kann ich sagen dass seine Kenntniss der Sprachen und der sprachwissenschaftlichen Litteratur mich in helle Bewunderung versetzt haben; selbst da wo ich nicht seiner Meinung bin, z. B. hinsichtlich einiger Erscheinungen die das Georgische ihm zufolge mit andern Sprachen gemein hat, muss ich seiner Sorgfalt und seinem Scharfsinn volle Anerkennung zollen. Es scheint mir dass solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Bestrebungen eine nachdrückliche Unterstützung verdienen. Vielleicht haben Sie die Güte mir mitzuteilen wann die betreffende Entscheidung fallen wird.
Ich habe bei dieser Gelegenheit wieder von Neuem bedauert, Giacomino von seinen basko-hamitischen Studien abgeschreckt zu haben. Dieselben sind nicht abgeschlossen worden, und so bin nun auch ich der ich immer auf den Abschluss wartete, nicht dazu gekommen, meine Ansichten über die Beziehungen des Baskischen zum Hamitischen im Einzelnen auseinanderzusetzen. Giacomino hatte um so weniger Grund die Flinte, wie wir |3|sagen, ins Korn zu werfen als unsere Thesen ja nicht in diametralem Gegensatz standen. Wenn ich je auf die Sache zurückkommen wollte, wie hätte ich mich zu verhalten? Das ignorieren was Giacomino vorgebracht hat? Gegen Darlegungen argumentieren denen die versprochenen Stützen nicht zuteil geworden sind?
Meine Blicke schweifen nicht so weit wie die Trombettis; immerhin suche ich mich nicht nur über die Verwandtschaftsverhältnisse des Baskischen und der kaukasischen Sprachen ins Klare zu setzen, sondern über die der Sprachen unserer Weissen Rasse im Allgemeinen, und so möchte ich auch gern dasjenige was über die Beziehungen zwischen Semitisch und Arisch gesagt worden ist und worum ich mich bisher, offen gestanden, wenig gekümmert habe, mir nun genauer ansehen. Vor Allem Ihre Arbeiten, die ich nicht besitze, - höchstens ein Bruchstück davon. Denn wenn ich mich nicht täusche, haben Sie an verschiedenen Orten über den fraglichen Gegenstand gehandelt. Für das Semitische hatte ich mich in meiner Schülerzeit sehr begeistert; mit 14 Jahren war ich in der hebräischen Grammatik recht gut zu Hause, und auch das Arabische blieb mir nicht fremd. Auf der Universität setzte ich diese Studien nicht fort; nun aber tritt mir das Arabisch als lebendige Sprache entgegen, und so fühle ich mich denn dazu angeregt, es mir soweit |4|dies bei meinen schwachen Kräften und bei nicht allzu guten Gelegenheiten möglich, anzueignen. Aber dabei habe ich natürlich wieder vor Allem gewisse Probleme im Auge. So glaubt Trombetti, dass die "emphatischen" Konsonanten des Arabischen (f̣, ḍ, ṣ) mit den Tenues der Kauk. Spr. verwandt seien die mit Kehlkopfverschluss gesprochen werden (t', k', p'). Ich kann dem aus verschiedenen Gründen nicht beipflichten; besonders auch deshalb nicht weil jene Laute gar nicht mit Emphase gesprochen werden, sondern nur palatale (hintere) Dentale sind.
Wenn ich nicht in Triest, sondern in Genua den europäischen Boden wieder betreten sollte, so werde ich versuchen Sie zu sehen. Bei meinen westlichen Streifzügen lag mir Mailand sehr bequem; bei meinen südlichen müsste ich einen grossen Umweg machen um es zu berühren. Ich bin ein sehr bequemer und leicht ermüdeter Reisende; ich kann das viele Eisenbahnfahren gar nicht vertragen. Zu Schiff von Neapel nach Port Said ist es eine wahre Vergnügungsreise, und auch in Ägypten fährt man nicht bloss auf dem Nil schön, sondern die Fahrt auf der Eisenbahn ist viel viel angenehmer als in Europa.
Ich hoffe dass Sie bei guter Gesundheit sind und grüsse Sie herzlichst
Ihr
H SCHUCHARDT
Adr.:
Cairo, Poste
1 Alfredo Trombetti (1866 - 1929) bewarb sich mit zwei Abhandlungen um den Premio di S. M. il Re per la Filologia e la Linguistica, und zwar: 1) Nessi genealogici fra le lingue del mondo antico; 2) Delle relazioni delle lingue caucasiche con le lingue camitosemitiche e con altri gruppi linguistici; zitiert nach: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei 12 (1903), 34.
2 A. Trombetti: Delle relazioni delle lingue caucasiche con le lingue camitosemitiche e con altri gruppi linguistici. Lettera al professore H. Schuchardt, in: Giornale della Società Asiatica Italiana 15 (1902), 177-201.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca dell'Accademia Nazionale dei Lincei e Corsiniana www.lincei.it. (Sig. B76_15)