Hugo Schuchardt an Otto Jespersen (10)

von Hugo Schuchardt

an Otto Jespersen

Graz

03. 04. 1889

language Deutsch

Schlagwörter: Spracherwerb Sprachprobe Dankschreibenlanguage Isländischlanguage Arabischlanguage Griechisch Eschricht, Daniel Frederik (1858)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Otto Jespersen (10). Graz, 03. 04. 1889. Hrsg. von Bernhard Hurch und Francesco Costantini (2007). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.132, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.132.


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Graz 3. April 89

Sehr geehrter Herr

Verzeihen Sie tausend Mal, dass ich erst heute Ihnen die Aufsätze über das isländische Wunderkind (Anti-mezzofanti1) zurücksende; nach einem fast halbjährigen wissenschaftlichen Interregnum bin ich erst heute dazu gekommen sie zu lesen. Die kritischen Bemerkungen Eschricht's (stieht dieser Aufsatz auch im 8. Bde.?) lassen doch einige Lücken offen.2 Dass Sæunn nicht hat Isländisch sprechen lernen, könnte sich aus einer eigenthümlichen Gemüthskonstitution |2| erklären; aus einer Art von Trotz oder Scham. Aber dass sie nicht gelernt habe, Isländisch zu verstehen, kein einziges Wort, das lässt sich bei einem normalen Intellekt nicht begreifen. Nun sagt E. selbst S. 395: "Har hun virkelig ikke forstaat det senere, saa maa hun altsaa have glemt det igjen. Man vil finde en saadan Antagelse urimelig." Also hat sie auch später noch Isländisch verstanden; darauf aber kommt E. nicht zurück, soviel ich sehe, und wenn er es thäte, müsste er zu dem Schlusse gelangen dass sie eine Simulantin war. Warum nicht? Vielleicht Hysterie? Verstand sie aber wirklich nichts, so müssen wir eben |3| eine anormale Beschaffenheit ihres Intellektes annehmen. Über eine gewisse Zeit hinaus konnte sie sich eine neue Sprache auch nicht mehr receptiv aneignen; sie war worttaub dem Isl. gegenüber.

Die allgemeinen Bemerkungen E.'s über die Kindersprache haben mich interessirt. Vielleicht ist es meine Schuld wenn ich den Antheil den im Allgemeinen die Ammen an der Kindersprache haben, nicht hinlänglich präcisirt finde. S. 388 heisst es, dass häufiger (als die Kinder selbst) die Ammen die Übersetzung in die Kindersprache vornehmen; damit scheint aber der erste Absatz S.389 etwas in Widerspruch zu sehen, wofern es sich nicht um eine sekundäre Um|4|wandlung der Ammenworte handelt. Das hätte aber dann deutlicher ausgesprochen werden sollen.

Wie (S. 399) vuum die Bedeutung von "med j" und bn-ko die von "fiirbenede" haben kann, erkläre ich mir nicht.

S. 402. "af hvilke hendes Sprog var nöje kjendt" Genau bekannt kommt mir hier wunderlich vor; wir würden sagen: genügend.

Besten Dank für das Übrige.

Mit hochachtungsvollen Grüssen

Ihr ganz ergebener

Hugo Schuchardt


1 Giuseppe Mezzofanti (1774-1849), Professor für Arabisch, orientalische Sprachen und Griechisch an der Universität Bologna. Es scheint, dass er etwa vierzig Sprachen fließend sprechen konnte. Mezzofanti ist in Anlehnung an diesen auch die Bezeichnung für eine poliglotte Person.

2 D. F. Eschricht, 1858, "Om demn sproglaverske Säunn", in: Dansk Maanedskrift 8. Dieser Aufsatz von Eschricht, in dem er den Fall eines isländischen Mädchens berichtet, das sich weigerte "reguläre" Sprache zu lernen und stattdessen eine eigene schuf, war damals, u.a. von Jespersen, vieldiskutiert (pers. Komm. Utz Maas).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv“ erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Dänische Königliche Bibliothek, Signatur NKS 3975 4°. (Sig. (10))