Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (124-B76_8)
von Hugo Schuchardt
23. 07. 1895
Deutsch
Schlagwörter: Lautgesetze Philologien Latein Niederländisch Italienisch Ive, Antonio Meyer, Gustav Farinelli, Arturo Grillparzer, Franz Demattio, Fortunato Mailand Österreich Trient Ungarn Graz Italien Ascoli, Graziadio Isaia (1895) Schuchardt, Hugo (1894) Farinelli, Arturo (1894) Farinelli, Arturo (1892)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (124-B76_8). Graz, 23. 07. 1895. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1268, abgerufen am 07. 12. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1268.
Graz 23 Juli 1895
Verehrter Freund,
Am vorigen Freitag sandte ich dem Präsidenten des R. Istituto Lombardo mein Dankschreiben für die Wahl zum korrespondirenden Mitglied; erst heute komme ich dazu, Ihnen, dem intellektuellen Urheber derselben, herzlichst für diese mir bereitete Ueberraschung zu danken. Ich hatte wirklich sehr wenig Anspruch darauf; was die letzten Zeiten anlangt, so wüsste ich nur ein Uebernachten in Mailand und mehrfache Bethätigung meiner italianophilen Gesinnung anzuführen.
Inzwischen ist Ihre Abhandlung Gli irredenti1 gekommen die ich mit Heisshunger verschlungen habe, die ich aber |2| bei gelegenerer Zeit und besserer Gesundheit in allen Einzelheiten erwägen und würdigen muss. Ich bewundere die Art und Weise wie Sie diesen heiklen und vielgestaltigen Stoff meistern, fast als ob es sich um Lautgesetze und Etymologieen handelte. Wenn irgend welche Verschiedenheit zwischen unsern Auffassungen besteht, so beruht dies wohl auf der freien Wahl unserer Standpunkte; sie wollen als Italiener und Romane reden, ich würde versuchen ganz neutral zu sein und die verschiedensten Beziehungen der Nazionen zueinander in Betracht ziehen, ja ich würde wahrscheinlich meinen Landsleuten Dinge sagen die ihnen sehr missfielen. Allein meine Schrift wird wahrscheinlich nie geschrieben werden. Ich weiss ein Hinderniss nicht zu überwinden. Ich will und kann nicht von der äusseren Politik, von möglichen oder wünschenswerthen Gränzveränderungen u.s.w. reden, und wiederum scheint es unmöglich darüber ganz zu schweigen. In der Staatenbildung sehen wir so viel historische Willkür, und doch wem möchte es gelingen, eine Karte von Europa mit Grenzen |3| zu entwerfen die ganz gerecht wären und demselben Prinzipe entsprächen? Ich müsste mich darauf beschränken zu zeigen wie innerhalb eines Staates den Ansprüchen verschiedener Nazionen genügt werden kann. Wir haben gerade in Oestreich genug Erfahrung; denn - das ist Ihnen vielleicht nicht deutlich genug - Oestreich ist keine zweite deutsche Monarchie (höchstens noch in der äussern Politik), es ist eine polyglotte, und man kann kaum noch sagen dass die Deutschen die Vorherrschaft führen (s. die Bewilligung des slowenischen Gymnasiums in Cilli durch den Reichsrath), und auch dieser Schatten der einstigen Obmacht wird bald ganz dahingeschwunden sein. 2 Von Oestreich abbröckeln, heisst es zerbröckeln. Will man überhaupt nur Nazionalstaaten anerkennen, dann sehe ich nicht ein, warum Corsica gegenüber dem Trentino, Bessarabien gegenüber dem rumänischen Siebenbürgen eine Ausnahme bilden sollten. - Wenn ich nun von dem Staatlichen ganz absehe, so bemerke ich Eines (ich habe es in meiner Schrift gegen Meyer: "Weltsprache und Weltsprachen"3 ausgeführt): dass ein lebhaft gesteigertes Nationalgefühl immer und überall |4| das Gefühl der Gerechtigkeit schwächt und behindert. Glauben Sie denn dass die Rumänen wenn sie sich in der Lage der Magyaren befänden, gerechter sein würden als diese? Und obwohl ich für die Rumänen bin, muss ich doch sagen dass die magyarischen Berichte weniger, weit weniger von Fanatismus, Unrichtigkeiten, Fälschungen infizirt sind als die rumänischen; ich finde in diesen oft eine solche Masslosigkeit dass ich in meinen Sympathieen ganz beirrt werde. Ich habe selbst Rumänen darauf aufmerksam gemacht wie unklug es ist, das Autochthonenthum der Rumänen in Siebenbürgen zum § 1 des nazionalen Programms zu machen. Die Frage der "Staatssprache" ist eine sehr wichtige; ich habe sie verschiedenen Rumänen vorgelegt und sie waren in Verlegenheit darauf zu antworten. Einer schlug das Lateinische vor, das ja in der That einst die offizielle Sprache Ungarns war. Sie finden S. 134 dass die Einführung des Vlämischen oder was fast ganz dasselbe ist, des Holländischen in Belgien die dortigen Franzosen zu Irredentisten machen würde; ja, müsste denn nicht die französische Staatssprache in Belgien dessen Hauptstadt mitten auf niederländischem Boden liegt, auf die Niederländer die entsprechende Wirkung ausüben? |5| - Doch ich fühle mich zu schwach und elend um noch eingehender über diese Dinge mich zu äussern; auch habe ich ja Ihre Schrift noch nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit gelesen. Verzeihen Sie nur wenn ich etwas Orthographisches berühre. Die Schreibungen mágyaro (magy. magyar) und cjeko (tsch. čech)
befremden mich; á soll doch dem magy. a' entsprechen, wie in Marosvásárheli, Kolosvár (nicht Koloszvár) S. 9. 5
Man sollte etwas Kalmirendes für des Nazionalgefühl verordnen statt es allerorten ohne Mass zu stimuliren. Ive hat vor einiger Zeit von den hiesigen italienischen Studenten eine Katzenmusik bekommen, und er hat sich gewiss nicht das Mindeste zu schulden kommen lassen was das Nationalgefühl seiner engern Landsleute verletzen könnte. Sie sind jetzt gerade unzufrieden damit, dass er - wofür wir so gekämpft haben - italienisch vorträgt; sie haben ihm erklärt sie gingen auch deshalb nicht in seine Vorlesungen weil dadurch die Berechtigung ihres Verlangens nach einer eigenen italienischen Universität beeinträchtigt erscheinen könnte!!* Bitte, schreiben Sie Ive nicht darüber; er mag von der Sache nicht hören. |6|
Und da ich einmal auf dem Wege der Konfidenzen bin, so will ich die Ihnen bezüglich G. Meyers gemachten ergänzen, nur insoweit als sie sich auf Italienisches beziehen. 6 Es ist mir mir höchst befremdlich dass er der sich so für italienische Dinge interessirt und oft hinüber reist, neuerdings sich so anti-italienisch gehabt, und zwar gerade um mich zu kränken. Zuerst war die Ive'sche Angelegenheit; darauf folgte die Arturo Farinelli's, eines Italieners aus dem Königreich (Intra), eines sehr talentvollen und fruchtbaren Menschen der ein Buch über Lope de Vega und Grillparzer, eine umfangreiche Abhandlung über die Beziehungen zwischen spanischer und deutscher Litteratur, und verschiedenes Andere geschrieben hat. 7 Er ist Züricher Doktor (ohne Maturitäts-Zeugnis), an der Handelsschule in Innsbruck angestellt, hat sich dort habilitiren wollen, ist von Demattio8 nach Graz gewiesen worden. Dazu gehörte vor allem die Nostrifikation seines Doktordiploms; das Gesuch darum wurde von der Fakultät, auf eine Aeusserung Meyers hin, a limine abgewiesen. Ich veranlasste dass das Ministerium die Fakultät aufforderte, über das Gesuch zu berathen. Die eingesetzte Kommission |7| entschied günstig. Dieser Kommissionsbericht aber wurde in der nächsten Sitzung der ich krankheitshalber nicht beiwohnen konnte, verworfen, was wiederum Meyer mit ganz unbegründeten, aber zuversichtlichst vorgetragenen Ansichten durchsetzte. Nun wurde er beauftragt das abweisende Referat zu verfassen; in der folgenden Sitzung verlas er es, entfernte sich klugheitshalber sofort, dann sprach ich und hatte den unglaublichen Erfolg dass der Beschluss der vorhergehenden Sitzung umgestossen u. Farinelli's Nostrifikation empfohlen wurde; jetzt ist er vom Ministerium aus schon nostrifizirt. Meyer hatte sein ganzes Urtheil über F.'s höchstverdienstliche Arbeiten in den Worten zusammengefasst dass sie Spuren eines journalistischen Dilettantismus (jeder andere Vorwurf wäre eher zu begründen gewesen) aufweisen, "wie wir ihn unter den jüngern Italienern heute vielfach vertreten finden, den wir aber von unsern Universitäten mit allen Kräften fern zu halten berufen sind." 9 Dies gab mir Gelegenheit auch eine Lanze für die streng geschulten Romanisten Italiens einzulegen.
Ihnen, den ich nun seit fast dreissig Jahren persönlich kenne und dem ich nichts Anderes als Lie-benswürdigkeiten zu verdanken habe, glaube ich dergleichen im Vertrauen mit- |8| theilen zu können. Übrigens handelt es sich nur darum, dass ich nicht etwa wegen Indiskretion in Fakultätsangelegenheiten zur Rechenschaft gezogen werde; was mein persönliches Verhältnis zu Meyer anlangt, so ist es mir sehr recht dass alle unsere gemeinsamen Bekannten darüber aufgeklärt werden, da es bei uns noch nicht Sitte wie in Amerika ist cards of divorce herumzuschicken. Es war mir längst nicht angenehm dass man unsere gegenseitigen Beziehungen als viel innigere betrachtet hat wie sie je gewesen sind. Nun aber wünschte ich doch dass man meinen Bruch mit ihm nicht etwa als einen Ausfluss meiner Neurasthenie - als ob mit mir als reizbarem, empfindlichem Menschen schwer zu verkehren wäre - ansehe, sondern als in sehr mannigfacher und bestimmter Weise motivirt. Ich bitte Sie das nur zur Kenntnis zu nehmen, und mir nicht weiter darüber zu schreiben; es liegt mir durchaus fern, Meyer im Allgemeinen in Ihren Augen herabzusetzen - über seine wissenschaftliche Thätigkeit geht ja unser Urtheil nicht auseinander.
Und nun mein alter verehrter Freund, leben Sie herzlichst wohl, und verzeihen Sie was in diesem Briefe zu viel oder zu wenig gesagt sein sollte.
Ihr ganz ergebener
HUGO SCHUCHARDT
Beste Empfehlung an Lattes bei Gelegenheit!
* Daher vermeiden die Italiener auch Innsbruck wo anderweitige italienische Vorlesungen gehalten werden.
1 G. I. Ascoli: Gli Irredenti, in: Nuova Antologia 58 (1895), 34-74.
2 Vgl. dazu Gli Irredenti, 35, 45, 48f.
3 Hugo Schuchardt: Weltsprache und Weltsprachen. An Gustav Meyer, Straßburg, 1894 (Brevier-/Archivnr. 279).
4 Vgl. Gli Irredenti, 44. - Das Separatum dürfte anders paginiert gewesen sein.
5 Vgl. Gli Irredenti, 40.
6 Vgl. 119-B23_26.
7 Arturo Farinelli (1867 - 1848) veröffentlichte u. a. folgende Werke: Grillparzer und Lope de Vega. Berlin, 1894; Die Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland in der Litteratur der beiden Länder, Berlin, 1892.
8 Fortunato De Mattio (1837 - 1899), Professor für italienische Sprache und Literatur in Innsbruck.
9 Gustav Meyer schreibt in seinem "abweisenden Referat", das er in der Fakultätssitzung vom 6. Juni 1895 vortrug: "Wird dieser Zusammenhang [zwischen klassischer und moderner Philologie] [...] zerschnitten, so kann bei einer Beschäftigung mit romanischer Philologie nichts anderes herauskommen als ein journalistischer Dilettantismus, wie wir ihn unter den jüngeren Italienern heute so vielfach wurzeln sehen, den wir aber von unseren Universitäten doch mit allen Kräften fernzuhalten bestrebt sein müssen."
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca dell'Accademia Nazionale dei Lincei e Corsiniana www.lincei.it. (Sig. B76_8)