Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (119-B23_26)
von Hugo Schuchardt
13. 09. 1894
Deutsch
Schlagwörter: Italienisch Slawische Sprachen Ive, Antonio Meyer, Gustav Ungarn Österreich Triest Gotha Brote, Eugen (1895)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (119-B23_26). Herkulesbad, 13. 09. 1894. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1263, abgerufen am 07. 12. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1263.
Herkulesbad, 13 Sept. 1894.
Verehrtester Freund,
Ich habe gestern die Voci latine, in einem eingeschmuggelten Exemplar (denn das Buch ist in Ungarn verboten) zu Gesichte bekommen, und sie mit grösstem Interesse durchblättert. Wenn ich mich auch dem Grundton der durch diese Veröffentlichung klingt, anschliesse, so bedauere ich doch dass sich ihm so viele Verkehrtheiten und Unrichtigkeiten beimischen. Jeder sieht die rumänische Frage1 mit seiner ganz besonderen nazionalen Brille an; und so benutzen die Franzosen die Gelegenheit in einer oder der andern Weise gegen die Deutschen loszuziehen, die doch wahrlich hierbei ganz unschuldig sind. Leroy Beaulieu2versteigt sich zu dem Unsinne dass l'aristocratie judaïsante des |2| Magyars est l'avantgarde du pangermanisme à l'Orient del'Europe. So viel allerdings steht fest dass die Juden denen das Magyarenthum in intellektueller Beziehung ausserordentlich viel verdankt, auch in politischer seine Führer sind; und dass der ganze nervös aggressive Chauvinismus auf deren Rechnung zu setzen ist. Auf Seite der Rumänen wiederum kann ich die beständige Hervorkehrung des Romanismus nicht billigen, diese Verquickung einer wissenschaftlichen mit einer politischen Frage. Wären die Forderungen der Rumänen etwa weniger berechtigt wenn sie wirklich erst, wie Rösler meinte, in später Zeit in Siebenbürgen eingewandert wären, oder wenn sie von den "Mongolen" statt von den Römern abstammten, die übrigens selbst ein recht schlechtes Beispiel für die Duldsamkeit gegen andere Nazionen abgegeben haben?
Auch Sie haben - obwohl ich Ihre Äusserungen auf eine ganz andere Stufe stelle als die der meisten andern Beisteurer - nicht bloss von den Rumänen Ungarns, sondern auch von den Italienern Oestreichs reden wollen.3|3| Ich glaube, zwischen beiden ist ein grosser Unterschied; denn während die Magyaren die Rumänen magyarisiren wollen, fällt es doch den Deutschen durchaus nicht ein die Italiener germanisiren zu wollen. Diese können doch im Allgemeinen "nella favella, nell'educazione, nell'istruzione" sich in nazionalem Sinne entwickeln; wenn ihnen noch nicht alle besonderen Wünsche befriedigt sind, - wie z.B. der einer Universität - so wird dieses seitens der Deutschen in prinzipieller Weise keineswegs widerstrebt. Aber bedenken Sie nur die schwierige Lage in der jede Regierung in Oestreich sich der verschiedenen Nazionalitäten gegenüber befindet! Die Verschiedenheit der kulturellen Entwicklung kann, weil sie selbst einer so verschiedenen Beurtheilung unterliegt, nicht in dem Sinne berücksichtigt werden wie Sie vielleicht wünschen. Denken die Italiener etwa gegen die Slawen die Triest rings umgeben, ganz gerecht, oder gegen die-jenigen die innerhalb der Grenzen des Königreichs leben?
Aber Sie denken vielleicht dass ich Ihnen hiermit einen Vorwurf machen will; nein, meine Absicht ist eine ganz andere. Ich bin ja im Grunde mit Ihnen ganz einverstanden, auch in Bezug darauf dass die nationale Entwicklung der Italiener innerhalb Oestreichs in keiner Weise geschmälert oder behindert werde, |4| soweit sie nicht eine anti-östreichische Färbung annimmt. Da ich aber selbst vorhabe über die rumänische oder über die Nazionalitätenfrage überhaupt Etwas zu schreiben, und da ich dabei natürlich die östreichischen Verhältnisse berühren werde, so läge mir sehr viel daran wenn ich Ihre Ansichten bezüglich der östreichischen Italiener spezialisirt sähe. Dass ich ein warmer Freund der Italiener bin, daran werden Sie nicht zweifeln, und ich glaube das in dem verflossenen Sommer bei einem besonderen Falle bewiesen zu haben; ich bin, gegen alle meine Kollegen (mit Ausnahme des Slawisten) für die italienische Vortragssprache Ives4 eingetreten, es ist die Sache jetzt beim Ministerium anhängig, vorderhand ist mir aber von all den langen und leidenschaftlichen Kämpfen in Rede und Schrift eine tiefe Verstimmung geblieben, vor Allem gegen Gustav Meyer. Sie dürfen nicht darüber befremdet sein dass ich eine in meinem letzten Briefe gemachte Anspielung nun etwas erläutere: man kann von mir in einer Sache die offen und heftig im Kaffeehaus besprochen worden ist, keine Diskretion erwarten, und ich bin keine Rücksicht demjenigen schuldig, der, obwohl ich ihm in mancher Fährlichkeit den übrigen gegenüber beigestanden bin, jede Rücksicht gegen mich ausser Acht gelassen hat. Er hat in einer Weise die mir zunächst |5| ganz unbegreiflich war, geschürt und gehetzt; dann aber habe ich von denjenigen die mit ihm in dieser Sache gegangen sind, erfahren was die Triebfeder seines Handelns gewesen ist. Er möchte gern Rektor werden und deshalb spielt er sich auf den Deutsch-nationalen hinaus. Meyer hat immer dem Opportunismus gehuldigt; voilà le comble. Ich sage Ihnen das mit ganz bestimmter Absicht. Es ist sehr möglich dass zwischen Ihnen und Meyer die Sache einmal - brieflich oder mündlich - zur Sprache kommt. Er wird dann betheuern dass er natürlich gegen das Italienische nichts habe, dass man aber gleich von vornherein einen Riegel vorschieben müsse damit nicht auch das Slawische dann Eingang finde. Bei ihm ist das ein Vorwand.
Ich grüsse Sie herzlichst
Von romanischem Boden aus.
Ihr ergebener
H. SCHUCHARDT
Morgen reise ich von hier nach Gotha (Siebleberstr. 33) ab, wo ich einige Wochen bleiben werde.
1 Die im Königreich Ungarn beheimateten Rumänen waren, besonders nach dem Ausgleich von 1867, in allen Lebensbereichen sehr starken Magyarisierungstendenzen ausgesetzt; vgl. dazu: Eugen Brote: Die rumänische Frage in Siebenbürgen und Ungarn, Berlin, 1895.
2 Anatole Leroy-Beaulieu (1842 - 1912), Historiker
3 Offensichtlich hatte Ascoli Schuchardt von seinen Plänen zur Abhandlung Gli Irredenti berichtet, in der er die beiden genannten Aspekte behandeln sollte; vgl. 096-00278 und 124-B76_8.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca dell'Accademia Nazionale dei Lincei e Corsiniana www.lincei.it. (Sig. B23_26)