Hugo Spitzer an Hugo Schuchardt (05-10744)
von Hugo Spitzer
an Hugo Schuchardt
18. 06. 1894
Deutsch
Schlagwörter: Leskien, August Schuchardt, Hugo (1894) Sigwart, Christoph (1873) Sigwart, Christoph (1878)
Zitiervorschlag: Hugo Spitzer an Hugo Schuchardt (05-10744). Graz, 18. 06. 1894. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2024). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.12357, abgerufen am 13. 11. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.12357.
Graz, den 18. Juni 1894
Hochverehrter Herr!
Verbindlichen Dank für die überaus gütige Zusendung Ihres offenen Schreibens an Leskien, das mich in hohem Grade interessirt hat, weil der Gegenstand in der That die Logik ebenso sehr als die Sprachwissenschaft berührt!1 Im Zusammenhange mit der logischen Seite des Problems steht meines Erachtens zweifellos ein Umstand, auf den bereits Sigwart2 hingewiesen hat mit der feinen Bemerkung, daß die Negation unter Umständen „selbst dann gilt, wenn das Prädicat einen dem Subject übergeordneten Begriff bezeichnet: Quadrat ist nicht Parallelogramm.“ (Logik I. Bd. S. 213 der ersten Aufl.). Nicht ganz dasselbe, aber etwas Analoges scheint mir betreffs der logischen Operationen stattzufinden, welche in den von Ihnen behandelten Wendungen zu äußerlich-sprachlichem Ausdrucke gelangen. So, wie es Denjenigen, welcher erklärt: „Quadrat ist |2| nicht Parallelogramm“ wenig kümmert, daß jedes Quadrat eo ipso auch ein Parallelogramm sein muß, wie es ihm vielmehr nur darauf ankommt, die Nichtidentität der Begriffe als solcher festzustellen, ebenso constatirt der, welcher „nicht einmal“ für „öfters“ oder „mehrmals“ setzt, einfach die Verschiedenheit der bezüglichen Zahlenbegriffe, unbekümmert darum, daß die Mehrzahl die Einzahl mit Nothwendigkeit in sich schließt. Die Art dieses Einschlusses, des Erscheinen des einen negirten Begriffs im andern ist freilich in beiden Fällen nicht ganz dieselbe, sofern das Verhältniß der Gattung zu den ihr untergeordneten Arten mit denjenigen der Eins zu den aus ihr gebildeten Zahlengrößen keineswegs zusammenfällt.
Was die Frage der Negation oder des Widerspruchs im allgemeinen anlangt, so scheint mir in derselben ebenfalls die Stellungnahme Sigwarts besonders interessant, ohne daß ich mich jedoch hier mit dem Tübinger Philosophen einverstanden erklären könnte. Nach Sigwart’s Auffassung träte näm- |3|lich der wahre Sinn des Widerspruch-Princips nur in der aristotelischen Formulierung desselben, also in dem Satze „es kann nicht zugleich u. in derselben Hinsicht B u. Non-B“ sein hervor, während von Andern, so auch Wundt, wie ich glaube, mit Recht geltend gemacht wird, daß diese Formulirung die andere, von Sigwart bekämpfte selber voraussetzt, weil die gleichzeitige Bezeichnung entgegengesetzter Begriffe in der nämlichen Hinsicht auf einen dritten, die Aussage contradictorisch entgegengesetzter Prädicate von demselben Subject nicht unmöglich wäre, wenn die widersprechenden Begriffe sich nicht bereits untereinander ausschlössen. So ruht denn das aristotelische Princip doch immer auf dem „A ist nicht Non-A“.
Verzeihen Sie, wenn ich Sie mit diesen Bemerkungen gelangweilt habe, u. nehmen Sie nochmals den besten Dank entgegen
Ihres
hochachtungsvoll ergebenen
Hugo Spitzer
1 An AUGUST LESKIEN zum 4. Juli 1894, Graz 1894.
2 Christoph von Sigwart (1830-1904), deutscher Philosoph; Verf. von Logik. 2 Bände, Tübingen 1873– 1878.
