Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (084-B76_19)

von Hugo Schuchardt

an Graziadio Isaia Ascoli

Graz

02. 12. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Jubiläums-Beitrag Kreolsprachen Sprachkontakt (allgemein) Kreolistik Lautwandel Etymologielanguage Albanischlanguage Romanische Sprachen Meyer, Gustav Flechia, Giovanni Salvioni, Carlo Flechia, Giovanni (1886) Salvioni, Carlo (1886) Schuchardt, Hugo (1887) Ascoli, Graziadio Isaia (1886–1888)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Graziadio Isaia Ascoli (084-B76_19). Graz, 02. 12. 1886. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1213, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1213.


|1|

Graz, 2 Dec. 1886.

Verehrter Freund,

Ich bedauere herzlichst dass ich oder vielmehr wir (Gustav Meyer inbegriffen) Ihnen zu Ihrem Ehrentage nicht auch ein litterarisches Sträusschen haben überreichen können, wie Flechia, Salvioni usw.1Mea culpa! Von Biadene hatte ich erfahren dass Sie heuer Ihr Jubliäum feiern; aber in Folge eines Misshörens oder |2|vielleicht meiner Zerstreutheit, war ich der Meinung, es sei im Sommer gewesen. Nun wollten zwar Meyer und ich im letzten Moment etwas drucken lassen, er etwas Albano-romanisches (das Albanesische stellt sich mehr und mehr mit romanischem Charakter dar) und ich etwas Kreolisches aus einer vollen Kiste, aber die Zeit war doch zu kurz. Ich bin übrigens ein so langsamer Arbeiter dass ich auch wo ich Alles schon bereit habe, noch zu spät komme. So mache ich neben meinem Freund Meyer |3|da wir nun häufig zusammen genannt werden, eine schlechte Figur; er ist so fruchtbar dass die zehn Jahre Altersdifferenz zwischen uns zu seinem Vortheil ausgeglichen scheinen.

Ich habe vor einigen Tagen meine Besprechung Ihrer ' Poscritta' an Neumann geschickt.2 Aber ich fürchte, Sie werden nicht ganz damit zufrieden sein, und wenn ich auch nicht den geringsten Grund für meine Person habe zu wünschen 'che nel prossimo quarto di secolo potesse diventare un po' più buono e più mite', so muss ich Sie doch bezüglich meines Artikels um ganz beson|4|dere Nachsicht bitten: Von den darin erwähnten Punkten, über die ich vorderhand noch nicht völlig Ihrer Ansicht bin, schweige ich hier3; erlauben Sie mir nur vorläufig die Frage, warum Sie suif = sebo als einen Dativ-Ablativ ansehen zu müssen glauben?4Kann es denn da ja m frühe schwand und zwischen ō und ŭ kein Unterschied fortdauerte, nicht auch Nom.-Akk. sein? - Frana = voragine, wie Flechia unzweifelhaft richtig ansetzt, kommt mir so bekannt vor;5 haben Sie nicht etwa diese Etymologie schon irgendwo gegeben?

Mit besten Grüssen
Ihr ganz ergebener

HUGO SCHUCHARDT

Soeben erhalte ich die Zeitungen für die ich bestens danke.


1 Giovanni Flechia: Nel 25° anniversario cattedratico di G I. Ascoli, gratulando e augurando all'amico e collega, Torino, 1886 (der Autor behandelt die Etymologien Frana - voragine und palmento - pigmentum) - Carlo Salvioni: Lamentazione metrica sulla pas­sione di n. S. in antico dialetto pedemontano, Torino, 1886.

2 Hugo Schuchardt: Due recenti lettere glottologiche e una poscritta nuova, di G. J. Ascoli, in: LB 8 (1887), 12-26 (Brevier-/Archivnr. 202).

3 Schuchardt ist vor allem in Fragen des Lautwandels anderer Meinung als sein italienischer Kollege.

4 G. I. Ascoli: Ancora del francese soif, ecc., in: AGI 10 (1886-88), 106-108.

5 Vgl. Anm. 1.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca dell'Accademia Nazionale dei Lincei e Corsiniana www.lincei.it. (Sig. B76_19)