Hugo Schuchardt an Adolf Noreen (09-04334)

von Hugo Schuchardt

an Adolf Noreen

Graz

14. 11. 1904

language Deutsch

Schlagwörter: language Dänischlanguage Deutschlanguage Slawische Sprachenlanguage Finnisch Ägypten Uppsala Rietz, Johan Ernst (1867) Noreen, Adolf (1895)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Adolf Noreen (09-04334). Graz, 14. 11. 1904. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11962, abgerufen am 13. 11. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11962.


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Graz 14 Nov. 04

Hochgeehrter Herr Kollege,

Sie werden sich über mein langes Schweigen nach Ihrem liebenswürdigen Brief vom 27 Juli und der späteren Übersendung der vier Hefte Ihres grossen Werkes sehr gewundert haben; Sie werden sich aber noch mehr wundern wenn Sie nun den Grund dieses langen Schweigens vernehmen. Während ein paar trüben, für mich traurigen Wochen die ich in Stockholm verlebte – als Neurastheniker bin ich ausserordentlich wetterempfindlich – las|2| ich ziemlich viel schwedisch und fasste zu dieser Sprache die mich so anheimelte und die mir im Vergleich zu den mich sonst beschäftigenden so ungemein leicht vorkam, eine warme Zuneigung, so dass ich sogar mich im Schreiben schwedischer Briefe versuchte. Es machte mir insbesondere Freude, meine Kenntnis der Unterschiede darzulegen welche im Gebrauch der starken und schwachen Adjektivdeklination und des bestimmten Artikels zwischen Schwedisch und Dänisch und Deutsch bestehen. Ich hatten zwar keineswegs die Absicht diesen Scherz in dauernden Ernst umzuwandeln – ich ziehe es seit Jahren vor in meiner |3| Muttersprache zu schreiben und erwarte dass Andere mir in der ihrigen schreiben – aber Ihnen gegenüber wollte ich diesen Scherz noch anwenden, ich wollte Ihnen i vårt språk1 schreiben, d. h. in der Sprache von der Sie wer weiss wie viel über 100 Prozent besitzen und ich nur 1/10000. Aber eine Menge anderer Dinge hinderten mich beständig an der Ausführung dieses etwas kindischen Planes, vor Allem wie das stets der Fall ist, meine Neurasthenie die mich nur wenig und in Zwischenräumen arbeiten lässt, und so bitte ich Sie denn meinen aufrichtigen Dank in deutscher Sprache ent- |4| gegenzunehmen.

Meine angedeutete Zuneigung wird fortdauern und möchte sich besonders in den „Schmökern“ (Abends im Bett, ohne Wörterbuch) schwedischer Romane und Novellen äussern. Ich habe zwei Bände von der Lea gelesen; sie sind sehr schmerzstillend und einschläfernd – mich einem Vergnügen entgegen[ge]setzer Art zwei Bändchen Detektivgeschichten von Conan Doyle – aber man kann doch von derlei nicht viel lernen. Solche Dinge wie Strindbergs I hafsbandet2 (das mich übrigens als Fischereiforscher interessierte) sind wiederum zu modern und schwierig. Bei Klemming fragte ich nach einem Katalog, sie hatten keinen. Können Sie mir Belletristisches (am ehesten noch im Lea-Genre3) empfehlen?

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Mein wissenschaftliches Interesse am Schwedischen bitte ich nicht zu überschätzen. Ich bin nun zu alt und zu sehr in Anspruch genommen um mich in das Studium der nordischen Sprachen wirklich zu vertiefen. Ich suche hier nur nach allgemeinen Anregungen und nach solchen Einzelheiten die ich im vergleichenden Sinne verwerten kann (wie das z. B. auf beifolgendem Blatte geschehen ist4). So beschäftigt mich jetzt schwed. not („Zugnetz“), in dem ich eine Ablautform von nät nicht zu erblicken vermag (aus sachlichen Gründen). Ist es nicht möglich dass es aus *newot entstanden ist, ein Lehnwort aus dem Slawischen, wo der Auslaut an voditi sich angeglichen hätte? Vielleicht findet man im Finnischen dafür irgendwelche Bestätigung; ich hatte deshalb an Sirelius5 geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten.

Ich besitze nun das Wtb. von Rietz6, sowie verschiedene andere |6| Dialektologische. Von Ihnen habe ich ausser den Spridda Studien7 (in denen ich mit grossem Vergnügen lese) die Altnord. Gramm. I und II, 1-3 (3 ist von 1900; 4 lässt sehr auf sich warten!)

Grüssen Sie, ich bitte, von mir die Herren Kollegen Geiger8, Danielsson9, Rydberg10 und Persson11 mit denen ich einige angenehme Stunden verbrachte (auch den heitern Vizebibl. Herrn Andersson12), und unbekannter Weise die andern Herren vom linguistischen Handwerk, darunter Herrn Lundelle13 wenn ihm la belle France erlaubt das Gesicht nach Süden zu wenden. Ich bedauerte damals auch die Herren Piehl14 und Almkwist15 nicht angetroffen zu haben (ich war im vorigen Jahre vier Monate in Ägypten16 und habe mich da auch mit arabischer Konversation abgequält); nun bedauere ich dass Upsala sie für immer misst.

Entschuldigen Sie mein langes Geplausche und seien Sie herzlich gegrüsst

von Ihrem ergebenen

HSchuchardt


1 „in unserer Sprache“.

2 Korr. havsbandet. – Die dt. Übers. lautet: „Am offenen Meer“.

3 Nicht identifiziert.

4 Nicht beigefügt.

5 Uuno Taavi Sirelius (1872-1928), finnischer Ethnologe (es ist keine Korrespondenz von ihm im HSA erhalten).

6 Johan Ernst Rietz, Svenskt dialekt-lexikon. Ordbok öfver svenska allmogespråket, Malmö: Cronholm u.a., 1867 (auch spätere Auflagen).

7 Adolf Noreen, Spridda studier, Stockholm: Geber, 1895 ff.

8 Nicht identifiziert.

9 Olaf August Danielsson (1852-1933), schwed. Altphilologe.

10 Gustav Leonard Rydberg (1861-1938), schwed. Romanist; vgl. HSA 09877-09878.

11 Martin Persson Nilsson (1874-1967), schwed. Klass. Philologe u. Religionshistoriker.

12 Aksel Andersson (1851-1923), schwed. Bibliothekar ( UB Uppsala).

13 Johan August Lundell (1851-1940), schwed. Linguist, Slawist und Dialektologe.

14 Karl Fred(e)rik Piehl (1853-1904), schwed. Ägyptologe.

15 Herman Napoleon Almqvist / Almvist (1893-1904), schwed. Orientalist.

16 Februar bis April 1903.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv“ erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universität Uppsala. (Sig. 04334)