Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (06-00579)
an Hugo Schuchardt
03. 07. 1884
Deutsch
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Südkaukasische (kartwelische) Sprachen Baudouin de Courtenay, Jan (1904) Vasmer, Max (1950–1958) Schuchardt, Hugo (1884) Eismann, Wolfgang (1994) Ivanov, Vyacheslav V. (1988)
Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (06-00579). Dorpat, 03. 07. 1884. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1184, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1184.
Printedition:
Dorpat, 3 Juli 1884
Verehrter Herr Kollege!
Ich habe nach Kazan geschrieben mit der Bitte mir einige Adressen in Kjachta oder in ihrer Nähe zu verschaffen. Ob es mir gelingt, weiss ich nicht.
Das Russische Europa’s erscheint in mehreren Nuancen. So vor allem ist der Unterschied zwischen dem Gross- und Kleinrussischen, und dann im grossrussischen Gebiete zwischen der südlichen und nördlichen Dialektengruppe zu bemerken. Alle diese Gruppen sind auch in Sibirien vertreten, da doch bekanntlich Sibirien verhältnissmässig spät von den Russen bevölkert wurde. Am zahlreichsten aber sind in Sibirien die Angehörigen der nordgrossrussischen Gruppe (mit o in unbetonten Silben und mit deutlichem, bestimmtem Vokalismus überhaupt). Selbstverständlich haben sich auch in Sibirien gewisse Abwei|2|chungen von den urheimatlichen Dialekten herausgebildet; diese aber sind nicht beträchtlich. Uebrigens kann ich Ihnen nichts sicheres mittheilen, da dieser Gegenstand erst sehr ungenau untersucht wurde und ich meinerseits hier keine Hilfsbücher unter der Hand habe.
Von einer Mischung zwischen Estnisch und Deutsch weiss ich nicht. Es ist mir etwas ganz neues. Die Person, welche Ihnen die beste Auskunft darüber ertheilen könnte, ist zweifelsohne Herr Dr. Weske, Lector der estnischen Sprache (Dorpat, Embach-Str. 2).1 Er ist hier der beste Kenner der estnischen Dialekten.
Das russische шурымуры kommt wahrscheinlich (direct oder indirect) vom französischencher amour. Es bedeutet doch geheime Intriguen, Kabalen, zu welchen ja doch vor allem die Liebesintriguen gehören. Es könnte auch deswegen so genannt sein, weil |3| man beim Intriguiren die Anrede „cher ami“, „cher amour“ u. ähnl. im Verhältniss zur Person missbraucht, welche man betrügen („dupiren“) will. – Ein pendant dazu bildet das russische „шаромыга“, „шаромыжка“, „получить что либо на шаромышку“ etc. = etwas auf „cher ami“ bekommen, d.i. ohne zu bezahlen, nur mit lieblichen Worten herauszulocken. – Im Polnischen kenne ich szurymury od. ähnl. nicht.2
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
JBaudouin de Courtenay
1 Michael Weske, Lektor der estnischen Sprache. Baudouin erwähnt Weske, bei dem er estnisch lernte, auch in seinem Aufsatz „Językoznawstwo czyli lingwistyka w wieku XIX“ von 1901, der später in seine „Skice językoznawcze“ von 1904 (Dzieła wybrane I 1974, 20) aufgenommen wurde, neben Wiedemann als einen der erfolgreichen estnischen Sprachwissenschaftler. Ein brieflicher Kontakt zwischen Weske und Schuchardt ist nicht belegt.
2 Zu шуры-муры (šury-mury): Während Baudouin die Bedeutung in seiner Neuauflage des Wörterbuchs von V.I. Dal’ (1902-1909) mit „heimliche Verschwörungen und Pläne“ (tajnye peregovory i zamysly) angibt, war die urspr. Bedeutung wohl „Liebesangelegenheiten, Intrigen“. Der Ausdruck ist auch in unterschiedlichen Jargons in anderen Bedeutungen verbreitet. Die Etymologie ist bis heute umstritten. Außer Argumenten für die Herleitung aus frz. cher amour gibt es auch begründete Annahmen, die für eine Rückführung auf türk.šurmur sprechen (vgl. dazu Vasmer, Max. 1950-58. Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg: Winter, der z.B. alban. shiri-miri, „Durcheinander“ anführt und auch Schuchardt ( Schuchardt, Hugo. 1884. Dem Herrn Franz von Miklosich zum 20. November 1883. Slawo-deutsches und Slawo-italienisches. Graz: Leuschner & Lubensky: 68). Zu den „Reimbildungen“, in deren zweitem Teil der anlautende Konsonant durch „m“ ersetzt wird – ein im Russischen durchaus produktives Modell –, gibt es inzwischen eine reiche Literatur (vgl. Eismann, Wolfgang. 1994. 'Tipy bessojuznych sostavnych suščestvitel’nych i ich sootvetstvija v južnoslavjanskich jazykach'. In Helena Beličova, Galina Neščimenko & Zofia Rudnik-Karvatova (eds.), Teoretičeskie i metodologičeskie problemy sopostavitel’nogo izučenija slavjanskich jazykov. Moskva: Nauk, 162-178: 172). Sowohl im Russischen, als auch in den Balkansprachen (verbreitet im Rumänischen, Makedonischen und Bulgarischen) wird dieses Modell auf türkischen Einfluss zurückgeführt (im Russischen wahrscheinlich durch kaukasische Vermittlung), auch wenn es begründete Annahmen gibt, dass dieses Modell auch in den indoeuropäischen Sprachen noch älter sein kann und hier wie in den semitischen, den Turksprachen und auch den kharthwelischen seit langem verbreitet ist (vgl. Ivanov, Vyacheslav V. 1988. 'Problemy vosstanovlenija obščeindoevropejskich zagovornich tekstov'. In V. V. Ivanov (ed.), Ėtnolingvistika teksta 1. Moskva: Akad. Nauk, 66-68).