Hugo Schuchardt an Wilhelm Streitberg (10-HSWS-05)

von Hugo Schuchardt

an Wilhelm Streitberg

Gotha

17. 10. 1895

language Deutsch

Schlagwörter: Kreolsprachen Literaturblatt für germanische und romanische Philologielanguage Baskischlanguage Kaukasische Sprachenlanguage Georgischlanguage Armenisch Windisch, Ernst Leskien, August Brugmann, Karl Friedrich Christian Sievers, Eduard Graz Herkulesbad Schuchardt, Hugo (1895) Wolf, Michaela (1993)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Wilhelm Streitberg (10-HSWS-05). Gotha, 17. 10. 1895. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11818, abgerufen am 22. 05. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11818.


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Gotha, Sielebenstr. 33
17 Okt. 1895.

Hochgeehrter Herr Kollege,

Ich möchte nicht dass zu meinen Liebhabereien ausser der von mir eingestandenen für Druckbriefe auch die für Selbstanzeigen gezählt werde. Kreolisches und Baskisches von mir habe ich im Ltbl. schon selbst vorgeritten; soll ich nun auch mein Kaukasisches bei Ihnen vorreiten? Es kommt ja zunächst darauf an dass ihm von andrer Seite überhaupt ein paar Worte gewidmet werden, |2| dass der Werth des Gegenstandes eine unparteiische, allgemeine Schätzung erfahre – der der sich eingehend damit beschäftigt, ist ja leicht zu einer übertriebenen geneigt. Insbesondere aber scheint er mir zu verdienen aus dem indogermanistischen Gesichtswinkel betrachtet zu werden. Das Georgische wenigstens dürfte für das Ossische und Armenische von Wichtigkeit sein und diese Sprachen mehr beeinflusst haben als von ihnen beeinflusst worden sein. Darüber habe ich mir aber noch gar kein eigenes Urtheil bilden können. In meiner kleinen Schrift habe ich mich bemüht die allgemeinere sprachwissenschaftliche Bedeutung des Georgischen festzustellen, sodann die wirklich ein Unikum in der Geschichte unserer Wissenschaft bildende Vernachlässigung desselben, |3|darauf die Ursachen derselben, und endlich habe ich darauf hingewiesen was von Seiten der Georgier zu thun sei, in Phonetik und Morphologie. Beim Verb vor Allem die Bestimmung des Werthes der Charaktervokale (d. h. der unmittelbar vor dem Stamm und nach den Personalzeichen Stehenden).

Was die Akademieabhandlung anlangt, so läge mir hier gerade an einer Berücksichtigung durch die Feder eines Andern. Es handelt sich nämlich dabei um die Klärung der allgemeinen Begriffe: aktiv und passiv.1 Ich selbst komme zwar in einer spätern Abhandlung, die ich S. 2 angekündigt habe, darauf zurück; dabei würde mir aber sehr dienlich sein wenn inzwischen|4| jemand Anderes sich darüber geäussert hätte. Meine kaukasischen Studien knüpfen an diesem Punkte an meine baskischen an; und es wäre gut wenn meine Diskussion mit Vinson in der Revue linguistique (s. Abh. S. 61) berücksichtigt würde, ich wäre sehr dankbar dafür wenn hier sich ein Schiedsrichter fände. Vinson scheint gar nicht begreifen zu können, dass von Haus aus ein Verb, d. h. eine Verbalwurzel, wie schlag- ebenso gut aktiv wie passiv gedacht werden kann: schlagen und geschlagen werden [* er verwechselt auch passive Bedeutung und passive Form]. Das ergibt sich aber aus der Form die Subjekt und Objekt annehmen. Im Indogerm. scheint die Sache klar zu sein; aber ich weiss nicht ob man überhaupt auf weitere Darlegung derselben sich eingelassen hat. Sehr merkwürdig ist es doch dass neben einer eigenen Akkusativform eine eigene Nominativform besteht, nicht wie in andern Sprachstämmen die eine oder die andere. |5|Ist dieses Verhältniss wirklich ursprünglich? Und wenn das Subjekt neben dem Objekt stets gekennzeichnet wurde, ist dies auch von Haus aus der Fall gewesen wo kein Obekt steht? Hat sich nicht etwa reg- venit an rex aedificat templum angeglichen? Dazu würden die südkaukasischen Sprachen eine schöne Analogie liefern. – Im Swanischen und Georgischen hat der Aktivus den Nominativ beim Intransitiv etwas zurückgedrängt, im Mingrelischen wie es scheint, fast ganz verdrängt (s. S. 40. 71. 88.). – Ich war im Begriff gewesen diese Betrachtung etwas weiter auszuführen; habe aber dann gesehen dass ich zu weit und vielleicht in die Irre gerathen möchte. Wenn Sie als „Zukunftsgrammatiker“ der Sache einiges Interesse darbringen so bitte ich Sie, sie mit einigen Worten zu berühren, vielleicht mit Berufung auf diese briefliche|6| Anregung.

Oder wäre Hübschmann2 geneigt ein paar Worte über meine Sächlein zu verlieren? Ich habe sie auch ihm geschickt, so wie u. A. Leonh. Masing3 in Jurjev4, von dem mir Baudouin de Courtenay5 mittheilte dass er behufs Studium des Georgischen nach dem Kaukasus reisen wolle. Stehen Sie mit ihm in Beziehung?

In den nächsten Tagen werde ich die Leipziger besuchen: Windisch, Leskien, Brugmann, Sievers u. a. Hirt6 besuchte mich in Graz, Weigand7 traf ich in Herkulesbad.

Mit besten Grüssen

Ihr ergebener

HSchuchardt


1 Schuchardt, „Über den passiven Charakter des Transitivs in den kaukasischen Sprachen“, Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 133, 1895, 1-91. – Zu Vinson dort S. 61.

2 Heinrich Hübschmann (1848-1908), Indogermanist in Straßburg; vgl. HSA 04898-04902.

3 Leonhard Masing (1845-1936), aus Estland stammender Slavist. Wolf, Nachlaß, 265 weist seine Briefe (06886-06888) fälschlich einem Pharmazeuten Emil Masing zu.

4 Estn. Tartu, dt. Dorpat.

5 Jan Baudouin de Courtenay (1845-1929), poln. Linguist französ. Herkunft; vgl. HSA 00578-00611; hier bes. HSA 14-00584.

6 Hermann Hirt (1865-1936), Indogermanist in Leipzig.

7 Gustav Weigand (1860-1930), Rumänist und Balkanologe in Leipzig; HSA 12700-12716.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Leipzig. (Sig. HSWS)