Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (02-00578)

von Jan Baudouin de Courtenay

an Hugo Schuchardt

Dorpat

04. 06. 1884

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Universität Grazlanguage Maimatschin-Dialektlanguage Tschechischlanguage Polnischlanguage Russischlanguage Ukrainischlanguage Südslawische Sprachenlanguage Englisch Krek, Gregor Graz Cherepanov / Черепанов, Sergej I. (1853) Krek, Gregor (1874) Fikfak, Jurij (Hrsg.) (2006) Baudouin de Courtenay, Jan (1879) Pjaseckij, Pavel Jakovlevič (1880) Lankenau, H. v./Oelsnitz, L v.d. (1877) Mugdan, Joachim (Hrsg.) (1984)

Zitiervorschlag: Jan Baudouin de Courtenay an Hugo Schuchardt (02-00578). Dorpat, 04. 06. 1884. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1180, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1180.

Printedition:


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Dorpat, 4 Juni 1884

Verehrter Herr Kollege!

Entschuldigen Sie, bitte, dass ich so spät auf Ihren Brief vom 13 Mai antworte. Ich war erstens mit einer Masse von Kleinigkeiten beschäftigt, und dann wollte ich Ihnen über den chinesisch-russischen Jargon von Kjachta möglichst genaue Auskunft geben. Leider ist mir nicht gelungen. Den, so wie viel ich weiss, ausführlichsten Aufsatz über den gen. Dialekt (Jargon) konnte ich nicht noch einmal durchlesen, da der ihn enthaltende Band (II) der „Извѣстія Академіи Наук“ (Berichte der SPetersb. Akademie) weder in der Universitätsbibliothek, noch sonst in Dorpat zu haben ist. Es ist der Aufsatz von Čerepanov:

Черепановъ, С. И.: Кяхтинское Китайское нарѣчіе Русскаго языка. (Извѣстія Им­пер. Академіи Наукъ по отдѣленію русскаго языка и словесности, II. 370–377).1

Ebensowenig konnte ich hier den polnischen Aufsatz von Rejchman bekommen, welcher u. d. T. |2|„Trzy dni w Majmaczynie“ (3 Tage in Majmaczyn) im Warschauer „Ateneum“ (1879. IV. 399, 402–406) 2 erschien und einige Data vom Kjachtinschen russischen Dialekt enthält.–

Vielleicht können Sie die genannten Zeitschriften entweder in der Universitätsbibliothek in Graz, oder bei ihrem nähren Kollegen, Prof. Gregor Krek, finden.3

Gewiss aber finden Sie bei Krek mein 2es „Ausführliches Programm“ (Подробная программа лекцій в 1877–1878 учебном году. Казань. Варшава. 1881),4 wo ich alle auf den Kjachtinschen Jargon bezüglichen und mir zugänglichen (wenigstens früher zugänglichen) Arbeiten citire. (pg. 161, 300). – Dort wird auch Pjasezkij’s „Reise in China“ (Пясецкій. ПутешествіепоКитаю. Petersburg. 1880)5[zitiert], wo wir auch einzelne Beispiele des Kjachtinschen Jargons angeführt finden.

Alles dieses aber reicht bei weitem nicht aus, um sich eine irgendwie genügende Vorstellung vom Kjachtinschen Jargon zu bilden. Die Materialien sind sparsam und höchst ungenau. So z.B. beschreibt Čerepanow manche Eigenthümlichkeiten des Jargons; erwähnt aber gar nicht, das dieser Jargon im Munde der Chinesen – (– die Russen pflegen |3|auch im Jargon r auszusprechen) kein r, sondern nur l, oder „etwas mittleres zwischen r und l“ kennt.

Anbei erlaube ich mir einige Phrasen in dem Kjachtinschen Jargon aus Čerepanow und aus Pjaseckij (den ich glücklicherweise hier bekam) zu übersenden. Die Čerepanowschen Phrasen (Anfang eines genug langen von ihm citirten Gespräches zwischen e. chinesischen Kaufmann und e. russischen Kaufmannsfrau) entnehme ich meinem „Ausführlichen Programme“.

Mit „ “ (oder ---) bezeichne ich russische unübersetzbare, mit * „ “ (oder ____) aber deutsche von mir gemachte Wörter, um damit die Bildungsweise der kjachtinschen aus den russischen zu zeigen.

Es würde gewiss viel vernünftiger sein, wenn ich Ihnen anstatt dieses rohen Materials eine Bearbeitung schickte; dazu aber habe ich leider keine Zeit. –

Falls Sie „Извѣстія Академіи“ in Graz nicht finden, könnte ich dieselben entweder während meines nächsten Aufenthalts in Warschau in der dortigen Universitätsbibliothek mir ansehen und den Aufsatz von Čerepanow für Sie ausbeuten, oder mir dieselben aus einer der Petersburger Bibliotheken nach Dorpat schicken lassen. Verfügen Sie über mich, wie |4|Sie es am passendsten halten. –

Die Chinesen besitzen Handbücher des Kjachtinschen Jargons. Die Russen aber habenes nicht so weit gebracht. Sie bemühen sich gar nicht, bevor sie nach Kjachta selbst kommen, wo sie den Jargon praktisch erlernen. –

Um etwas tüchtiges über den Kjachtinschen Jargon zu veröffentlichen, dazu habe ich, wie Sie sehen, kein ausreichendes Material. –

Aus den, so viel ich weiss, ganz zuverlässigen Angaben ersieht man, dass zwischen dem čechischen u. polnischen, zwischen dem gross- und kleinrussischen etc. keine Uebergangsdialekte im eigentlichen Sinne des Wortes zu constatiren sind.6 Man findet zwar hie und da etwas, was für einen Uebergangsdialekt gehalten werden könnte; aber es ist Uebergang nur in dem Sinne, wie z.B. die englische Sprache einen Uebergang von dem romanischen zu dem germanischen Sprachgebiete (oder umgekehrt) bildet: es ist ganz einfach eine spätere Mischung und Entlehnung mit der Aufbewahrung der charakteristischen Merkmale einer Gruppe.

Eine befriedigende Erklärung dieser Erscheinung kann ich nicht geben. Vielleicht sind die Kleinrussen von den Grossrussen, die Čechen von den Polen etc. eine Zeitlang durch die |5|Völkerschaften anderes Stammes (oder irgendwie anders) geschieden gewesen, und diese Periode der gegenseitigen sprachlichen Isolirung reichte dazu aus, um den betreffenden Dialektengruppen ein ganz besonderes, scharf bestimmtes Gepräge zu verleihen. –

Man müsste eigentlich eine Reihe von Untersuchungen solcher Grenzdialekte in verschiedensten Gebieten veranstalten, um zu irgend einem sicheren Schlusse in dieser höchst wichtigen und interessanten Frage zu kommen.

In Erwartung einer baldigen Antwort, verbleibe ich

mit der ausgezeichneten Hochachtung

Ihr ergebenster

JBaudouin de Courtenay


1 Čerepanov, S. I. (1810-1884), russischer Ethnograph und Schriftsteller.

2 Es handelt sich um einen Bericht des polnischen Naturforschers und Publizisten Bronisław Rejchman (1848-1936), der als einer der ersten die Theorien Darwins in Polen propagierte.

3 Gregor Krek (1840-1905), slowenischer Slawist, war von 1870-1902 Professor für slawische Philologie in Graz. Sein Hauptwerk, Einleitung in die slavische Literaturgeschichte und Darstellung ihrer älteren Perioden, 1. Auflage Graz 1874, wurde von Baudouin mehrfach rezensiert (Schriftenverz. Baudouin 54, 84). In seinem Bericht über seine Dienstreise ins Ausland zu wissenschaftlichen Zwecken (Otčety, Schriftenverzeichnis Baudouin 77, S. 18) berichtet Baudouin davon, dass er am 1. April von Wien nach Graz gefahren sei, mit der Absicht, dort nur einige Stunden zu verweilen, um gleich nach Maribor weiter zu fahren. Wegen des Verlustes seines Koffers musste er aber einen Zwangsaufenthalt von fünf Tagen in Graz einlegen. Er schreibt über Krek: „In Graz fand ich eine sehr freundliche Aufnahme durch H. Gregor Krek, Professor für slawische Philologie an der dortigen Universität und durch H. Anton Klodič, den Inspektor der Volksbildungsanstalten. Sie sind beide geborene Slowenen. Prof. Krek war fast mein ständiger Gesprächspartner und aus den Gesprächen mit ihm erfuhr ich viel Neues und Interessantes in wissenschaftlicher Hinsicht“. Zu Kreks Wirken vgl. Fikfak, Jurij (ed.). 2006. Gregor Krek (1840-1905). Filologija in slovanstvo. Ljubljana: Založba ZRC, ZRC SAZU. Darin: Samec, Drago. 2006. Gregor Krek. Z bibliografijo po njegovih stopinjah, 237-245. Kreks Nachlass befindet sich heute in der „ Narodna univerzitetska knjižnica“ in Ljubljana unter Ms 1465 und umfasst Werke und Briefe von Baudouin. Laut Auskunft von Drago Samec gibt es in Kreks Nachlass (Ms 1465) 20 Briefe Baudouins an Krek. Ein weiterer Brief soll sich im Nachlass Šlebingers (Ms 1431) befinden. Die Gegenbriefe von Krek aus Graz an Baudouin aus den Jahren 1872-1891 befinden sich in der St. Petersburger Filiale des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften (im Umfang von 86 Blättern, Auskunft des Direktors, I.V. Tunkina vom 14.3.2007).

4 In seinem „Podrobnaja programma lekcij“ für das Studienjahr 1877-1878 von 1879, S. 161 (Baudouin de Courtenay, Jan. 1879-1881. Podrobnaja programma lekcij I. A. Boduėna de Kurtenė (J. Baudouin de Courtenay) v 1877-1878 godu, Kazan’-Warszawa: Univ. Tipogr.) führt Baudouin unter Kapitel III Klassifikacija jazykov unter „Kapitel 14 Die Frage der Mischsprachen“ (Vopros smešannych jazykov) als Beispiele für den „Einfluss ausländischer Sprachen entweder auf lautliche Realisierungen oder aber auf den morphologischen (strukturellen) Bau einer gegebenen Sprache“ an: „Zum einen, die resianischen Dialekte und die eingedeutschten Dialekte der zu Slowenen gewordenen Deutschen in Südösterreich (in Deutschruth usw.), zum anderen aber, den kjachtinischen Dialekt der russischen Sprache.“

5 Pjaseckij, Pavel Jakovlevič. 1880. Putešestvie po Kitaju v 1874-1875 godu. V dvuch tomach. Tom I. SPb, 14-23, 363-368. Bereits 1877 war in Leipzig bei Otto Spamer der 2. Band von „Das Heutige Rußland. Bilder und Schilderungen aus allen Theilen des Zarenreiches in Asien“ von H. v. Lankenau und L. v. d. Oelsnitz erschienen, in dem sich auf S. 221ff auch eine Schilderung vom Kiachta und Majmatschin fand, in der aber auf die sprachlichen Verhältnisse nicht näher eingegangen wurde.

6 Darüber hatte Baudouin auch in seiner Dorpater Antrittsvorlesung vom 6. September 1883 berichtet: Übersicht der slavischen Sprachenwelt im Zusammenhange mit den andern arioeuropäischen (indogermanischen) Sprachen. In Mugdan, Joachim (ed.). 1984. Baudouin de Courtenay. Ausgewählte Werke in deutscher Sprache. München: Wihelm Fink,1-21, hier: S. 8. Heute sind seine Aussagen zumindest für die südslawischen Sprachen so nicht mehr haltbar, wenn er ausführt: „So existirt z.B. kein Übergangsdialekt zwischen den Polen und Russen, zwischen den Serben und Bulgaren, zwischen den Polen und Slovaken, zwischen den Polen und Czechen, selbst wohl zwischen den Großrussen und Kleinrussen“.

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