Kurt Kreuschner an Hugo Schuchardt (01-05833)

von Kurt Kreuschner

an Hugo Schuchardt

Friedenau

01. 11. 1905

language Deutsch

Zitiervorschlag: Kurt Kreuschner an Hugo Schuchardt (01-05833). Friedenau, 01. 11. 1905. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11689, abgerufen am 15. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11689.


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Friedenau d. 1. November 1905.

Sehr verehrter Herr Hofrath!

In Beantwortung Ihrer lieben Zeilen vom 24 Oktober d. J. bitte ich zunächst um Entschuldigung, daß sich die Antwort um einige Tage verzögert. Grund: eine Tour nach Danzig, wo ich mir im Auftrage einer Zeitschrift einige Neuigkeiten in der Schiffsbauabteilung der technischen Hochschule angesehen habe.

Zur Sache Reuleaud teile ich mit, daß eine Witwe R. wol existiren muß. Sie wurde in den Zeitungen, wie ich mich mit Sicherheit erinnere, anläßlich der Beerdigungsfeierlichkeiten mehrfach erwähnt. Wohnung Berlin W. 62 Ahornstr. 2. Absolut Sicheres kann ich im Augenblick nicht feststellen. Wenn Sie sich aber an das Einwohnermeldeamt (Ahornstr. 2 gehört nämlich schon zu Charlottenburg) wenden wollten, würden Sie sichere Auskunft erhalten.

Ihre humoristischen Bemerkungen über den Schaumwein treffen den Kern der Sache wie ein Kruppscher Dampfhammer den Amboß. Selbstverständlich ist allerfeinblumiger Rheinwein gegenüber dem Champagner ungefähr dasselbe was mir ein Kavalier nach alter Art im Vergleich mit einem protzenhaften, weich gewordenen Fleischhacker oder Börsenmenschen ist. Auch ich ziehe eine Flasche Hochheimer Domdechant mit einer guten Zigarre in einem stillen Ecke genossen, der Witwe Cliquot1, |2| dem trockenen Henckel2 und sogar dem steirischen Herzogmantel3 vor. Aber in Gesellschaft von Damen, die im besten Zuge sind, sich mit dem moussierenden Getränk das Näschen zu begießen, ist der Champagner doch zu brauchen.

Daß Sie es mit dem Wetter so schlecht getroffen haben, ist sehr bedauerlich.4 Ich kam bei meiner Schweizreise im Juni und Juli grade in eine Lücke mit gutem Wetter hier an. In Lugano, Comersee, Domodossola, Simplon war es prachtvoll. Nur die Tour nach Zermatt Gornergrat5 mußte ich aufgeben. Um so schöner war es dann in Chamonix, Genfersee, Berner Oberland und Oberengadin, wo ich mich auf den Languard6 und die Fuorcla Surlei7 heraufwälzte und wie ich mich von oben wieder hinunterrollte, kam mir immer wieder bei meinen 95 Kilo Lebendgewicht der Vers in Erinnerung:8 αὖτις ἔπειτα πέδονδε κυλίνδετο λᾶας ἀναιδής

Mit ehrerbietigem Gruß verbleibe ich

Ihr stets ergebener

Curt Kreuschner


1 Veuve Clicquot, eine der bekanntesten französischen Champagner-Marken.

2 Henkell (sic) trocken, deutscher Sekt.

3 Bekannter steirischer Sekt.

4 Schuchardt hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Straßburg auf.

5 Aussichtspunkt in 3089 m Höhe

6 Der Piz Languard ist eine Bergspitze östlich von Pontresina im Engadin im Kanton Graubünden

7 Die Fuorcla Surlej ist ein Pass 2753 m in den Schweizer Alpen.

8 „Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Felsstein“, Odyssee 11, 598 – Übers. J. H. Voss).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05833)