Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (11-03778)
an Hugo Schuchardt
06. 11. 1912
Deutsch
Schlagwörter: Indogermanistik Niederländisch Bantu-Sprachen Nilotische Sprachen Baskisch Eskimo-aleutische Sprachen Meinhof, Karl Gabelentz, Hans Georg Conon von der Bonn Schuchardt, Hugo (1912) Schuchardt, Hugo (1912) Schuchardt, Hugo (1912) von der Gabelentz, Georg (1894)
Zitiervorschlag: Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (11-03778). Nijmegen, 06. 11. 1912. Hrsg. von Bernhard Hurch (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11442, abgerufen am 04. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11442.
Nijmegen 6 November 1912.
Lieber Herr Hofrat,
Ihren vier interessanten Schriften ist es gelungen mich für einen ganzen Tag aus meiner grösseren Arbeit über die Niederländische Sprache (einer Art grammatischem Handbuche) wieder einmal nach Afrika hinüberzuziehen. Mit dem grössten Vergnügen und vielseitiger Belehrung habe ich sie durchgelesen.1
1.o Mit Ihrem abtrünnigen Urteil über Westermann bin ich ganz und gar einverstanden. Ich habe darüber in Löven auf der Semaine d’Ethnologie religieuse, ohne Ihre wohl schon damals gedruckten Arbeiten zu kennen, harte Worte gesagt. Westermanns Buch scheint mir ein methodischer Rückfall bis vor Bopp und Pott.
2. In den Überlieferungen der Masai (S. 16) sehe ich aber keine auf schmalen Wegen gewanderten Kulturdinge, sondern alte Survivals, wie Sie aus meinem ebenfalls in Löven abgehaltenen Vorlesung über die Bantu-nominal-präfixe ersehen werden. Wenn ich darin irre, hoffe ich von Ihnen und Anderen bald auf den richtigen Weg zurück-|2|geholt zu werden. Aber vorder Hand sehe ich in Ihren Bemerkungen von S. 21 bis 36 über die Bantu-präfixe errinnernden Artikeln der Nilotischen Sprachen einen neuen Hinweis auf alte Klassificationen, die uns auch in dem ersten Kapitel der Genesis in den sechs Tagen aufbewahrt sind. Darum auch stehe ich in der Frage ob das Geschlecht in Afrika entweder neu oder alt sei an der Seite Meinhofs. Das zwei- oder dreifache Genus in der Sprache hat sich wenn man die neutralen Pronomina als was usw. aussondert in meinen Augen fast überall aus einer mehrklassigen Einteilung des Weltalls entwickelt, unter Einfluss der Wundtschen Werthunterschiede, die uns gerade im Nubischen und im Nama so augenfällig vorliegen.
3. Auch ich habe in Löven darauf hingewiesen dass Westermann und seinesgleichen den Trombetti nicht ignorieren sollten, der, wie oft er auch irren mag, doch methodisch und wissenschaftlich ihnen weit überragt, wenigstens in der Sprachvergleichung.
4. Das Ursudan Westermanns scheint mir ein Hirngespenst. Aber das Urbantu Meinhofs eine sehr wahrscheinlich doch wohl mögliche Rekonstruktion. Hätte er nur mehr Tatsachen verwertet, und wäre er besser historisch vorgegangen, sodass er erst ein Ur-|3|Kaffrisch, Ur-NordWest-Bantu, Ur-Mittelbantu und Ur-NordOst-Bantu konstruiert, und dann daraus ein Ur-bantu, dann glaube ich, dass er mit der Methode der Indogermanisten doch wohl etwas Triftiges hätte leisten können. Das Urbantu, wie es aber jetzt vorliegt, schein auch mir die Sachen mehr zu trüben als aufzuklaren.
5. Auch Meinhof ist nun aber von Westermann noch tiefer in den Pfuhl gezogen. Das hatte ich schon vor der Zusendung Ihrer Besprechung konstatieren können2 an seinen “Hamitensprachen”. Pfui, Pfui, welch eine Wissenschaft ist die unsrige wenn sie in solche Hände fällt.
Aber auf S. 410 unten bin ich mit Luschan einverstanden. Die brunetten Indogermanen haben doch auch Ihre Sprache in Skandinavien und am Mittelländischen Gestade übergepflanzt, ohne daselbst Ihren anthropologischen Typus hinüberretten zu können. In Griechenland ist es die Mediterranische in Skandinavien die Nordische Rasse, die sich das Beste ans Klima anschliesst. Wäre so etwas auch |4| nicht in Afrika möglich? Im Anschluss an Ihrer Fussnote auf S. 18. über die mikroskopisch psychologische Methode, würde ich hier “die bessere Sprache” definieren, als jene, die von der anderen Seite das leichteste anzulernen ist. Nicht, dass ich darum Meinhofs Konklusionen akzeptiere. Nur scheint mir dieser Einwand nicht so ausschlaggebend, als die anderen die Sie beibringen.
6. Über Polarität hätte ich gern etwas mehr von Ihnen gelesen. Etwas Wahres steckt doch darin. Aber nur Sie können darüber urteilen, ob es als Characteristicum einer Sprachgruppe Dienste leisten kann. Mir wenigstens geht ein Urteil darüber völlig ab.
7. Ihr Nubisch-Baskisch scheint mir eine Bestätigung der Ansichten Giacomini’s, Trombetti’s und v. d. Gabelentz.3 Ich fühle jetzt etwas dafür, das Baskishe als ersten Ausläufer der alt-kaukasischen Ursprache anzusehen. Das Prae-hamitische wäre bald nachher gefolgt. Aber das ist “luftiges Gesindel”.
8. ezker : ezkel : germ. skel - scheint auch mir nun sehr annehmlich.4
9. In der Mitte auf S. 12.5 berühren Sie einen Punkt, der mir besonders interessiert. Sie wissen doch dass schon v. d. Gabelentz I.F. IV S. 56 bemerkt, dass Baskisch, Eskimo und Tibetisch zusammentreffen 1o in der Passivkonstruktion 2 o in der Voranstellung des Genetivs 3o in der Hinterstellung des Adjektivs. Kann dies auf Elementarverwandtschaft beruhen? So nicht, dann muss es Ur-Europäisch sein.
Gottempfohlen,
Jac. van Ginneken
|3|P.S. Ich habe heute gerade ein neues Büchlein von Fr. von der Velden eingesehen, Bonn 1912 Über Ursprung und Herkunft der idg. Sprachen und anarische Sprachreste in West Europa.7 Vieles ist schief aber ein roter Faden von Wahrheit läuft vielleicht hindurch. Was meinen Sie?
1 In den folgenden Punkten bezieht sich JvG auf Schuchardt (1912) afrikanistische Arbeit “Bari und Dinka”, in der WZKM, Brevier/HSA 624.
2 Schuchardt (1912) Rez. von Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, ebenfalls in der WZKM; Brevier/HSA 626.
3 Schuchardt (1912) Zur methodischen Erforschung der Sprachverwandtschaft (Nubisch und Baskisch), RIEV 6; Brevier/HSA 634.
4 Vgl. S. 9 des letztgenannten Aufsatzes von Schuchardt.
5 Wiederum desselben Aufsatzes.
6 Es handelt sich um den legendären, postum erschienenen Aufsatz von Georg von der Gabelentz (1894) “Hypologie der Sprachen“ [recte: “Typologie der Sprachen”, Indogermanische Forschungen 4: 1-7.
7 Die bibl. Angabe ist vollständig.