Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (10-03777)
an Hugo Schuchardt
04. 04. 1912
Deutsch
Schlagwörter: Magyar Nyelvör Revue internationale des études basques Semitische Sprachen Baskisch Schmidt, Wilhelm
Zitiervorschlag: Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (10-03777). Nijmegen, 04. 04. 1912. Hrsg. von Bernhard Hurch (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11441, abgerufen am 08. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11441.
Nijmegen 4 April 1912
Sehr geehrter Herr Hofrat,
Ich habe schon lange nichts mehr von mir hören lassen, weil ich so ausserordentlich beschäftigt war. Nun aber heute abend für mich die Osterferien angefangen sind, ist meine erste Stunde für Sie.
Herzlichen Dank für die treue Zusendung Ihrer Aufsätze, obwohl ich Undankbarer kein einzelnes Zeichen von Leben gab. Besonders ist mir der Sonderabdruck aus Magyar Nyelvőr aufgefallen als äußerst wichtig für die Fragen die ich gewöhnlich bearbeite.
… … … Hier bin ich wieder stecken bleiben bis 15 April. Eine unerwartete Assisten-anfrage des Pfarrers meines |2| Geburtsdorfes rief mich dahin.
Nun, ich bin sehr froh Ihre Meinung zu kennen über die drei Verwandtschaften: Elementar u. Vererbung und Entlehnung. Ich habe nämlich die Absicht über diese Fragen zu reden auf der Semaine d’Ethnologie religieuse von P. W. Schmidt1 in Löven für August-Sept. 1912 veranlasst.
Was besonders den definiten Artikel betrifft, glaube ich noch etwas gefunden zu haben, was sogar die Elementarverwandtschaft psychologisch zu erklären imstande sein möchte. Suchend für eine niederländische Grammatik nach einer psychologischen Defintion des def. Artikels, die sich für alle Fälle anwenden liesse, kam ich auf diesen Gedanken: Man gebraucht den definiten Artikel immer und nur, wenn man die Überzeugung hat: der Angesprochene wird aus dieser Andeutung das gleiche Objekt verstehen als der Sprecher meint. Es ist m. a. W. eine intensive Rücksichtnahme auf das momentane Bewusstsein des interlocuteurs; der def. Artikel stammt also aus einer eminent-sozialen Gedanken- und Gemütsgestaltung.
|3|Die Völker nun, die nicht sehr soziabel veranlagt sind, wie die Slaven und die Latiner usw. usw. kennen den def. Artikel nicht. Die Griechen, vielleicht das meist-sociale Volk der ganzen Welt haben den Artikel erfunden. Auch die Romanen, und später die Germanen sind psychologisch-notwendig mit dem Anwachsen ihrer sozialen Kultur auf den Artikel verfallen. Und wenn einmal die Slaven sich zu westeuropäischer Gesinnung emporzuheben anfangen, kommt auch der def. Artikel wieder notwendig ans Tageslicht.
Ich möchte gern wissen, was Sie von diesem Gedankenfünklein sagen. Das Semitische scheint mir nicht das günstigste Feld zur Kontrole dieser These, denn hier sind die anderen Determinationsweisen wie Genitiv, Diptota usw. vielleicht vorbildlich gewesen. Kennen Sie vielleicht einige aussereuropäische Sprachen worin wir das Entstehen des def. Artikels genau verfolgen können?
Sehr willkommen war mir auch Ihre Abhandlung über die baskischen Namen des Wiesels, da ich eine ziemlich umfangreiche Gefühls-Semasiologie im Druck habe, wo ich auch die sprachlichen Benennungen |4| des Wiesels als Beispiel der psychologischen Erklärung gegen die bisherig. einseitigen mythischen oder historischen Auffassung ins Feld führe.
Aus den Abdrücken der Revue internationale des Études basques ersehe ich mit Freude, dass Sie doch noch immer den Plan hegen, uns noch einmal mit einer baskischen Grammatik zu beschenken. Wahrlich, ich glaube, dass Sie uns nicht leicht eine bessere Frucht Ihrer siebziger Jahre auswählen könnten. Aber was davon kommt oder nicht kommt: Alles was Sie uns bieten ist herzlich willkommen, denn überall liegen die Goldstäubchen in reicher Fülle.
Ich wünsche Ihnen, obwohl zu spät, ein fröhliches Ostern und eine neue Lenz. Ich hoffe Ihnen bald wieder einmal etwas grösseres aus meiner Feder zuschicken zu können.
Mit wahrer Freundschaft und Hochachtung
Jac. van Ginneken S.J.
1 Mit Pater Wilhelm Schmidt (https://gams.uni-graz.at/o:hsa.persons#P.2652) stand auch Schuchardt in brieflichem Kontakt.