Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (04-03771)
an Hugo Schuchardt
26. 02. 1911
Deutsch
Schlagwörter: Deutsche Dialekte
Baskisch
Algonkin Uhlenbeck, Christian Cornelius
Zitiervorschlag: Jacques van Ginneken an Hugo Schuchardt (04-03771). Maastricht, 26. 02. 1911. Hrsg. von Bernhard Hurch (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11435, abgerufen am 24. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11435.
Maastricht 26 Febr 1911
Sehr geehrter Herr Hofrat.
Heute morgen schrieb ich Ihnen einen ziemlich langen Brief. Diesen Mittag empfing ich Ihre werte Karte, und diese veranlasst mich wieder zu einer Gegenäusserung. Leider gibt as Museum keine Sonderabdrucke ab, sonst hätte ich Ihnen gewiss schon früher die betreffende Anzeige zugesandt. Wie Sie vermuten enthält die neuere Schrift Uhlenbecks alls in der ersteren Gesagte. Was nun die Streckformen angeht kann ich mich vorläufig mit Ihrer Ansicht nicht befriedigen. Und wenn ich nicht irre ist der Grund ein prinzipieller. Wenn ich in mehereren Sprachen unabhängig von einender einer im Ganzen gleichgearteten Erscheinung begegne, kann ich nicht umhin nach der allgemeinen Erklärung einer tieferen psychologischen Ursache auszusehen. Erklärungen von Einzelfälle oder besser individuelle Ursagen können diese allgemeine Ursache unterstützen, vielleicht selbst wäre die ganze Kategorie ohne diese Unterstützung nie deutlich ans Licht |2| getreten, aber an die Stelle der allgemeinen Ursache treten können sie nicht. Zur Sache also glaube auch ich, dass manche Streckformen aus Wortmischungen entstanden sind, aber es gibt auch Wortmischungen, die mit den Streckformen nichts auszustehen haben. Wie kommt es nun, dass eine ganze Reihe von Formen entstanden ist, teils Mischformen, teils – für den heutigen Stand unserer Kenntnisse wenigstens – keine Mischformen, und die doch alle ein ganz gleichgeartetes Gepräge an sich tragen? Eigenen Akzent, eigene Bedeutungsart, eigene Lautgesetze (Differenzierung von Schröder nachgewiesen)! Ich weiß nicht ob Sie einen der deutschen Dialekte, denen Schröder seine Bespiele entlehnt, als Ihre Muttersprache kennen, aber für mein Nord-Brabantisches Sprachgefühl ist hier kein Zweifel an der einzigartigen Stellung der Streckformen möglich. Es ist darum kein Wunder dass de Bov (ein Sprachpraktiker ohne jede Kenntnisse von Infigierung in anderen Sprachstämmen) schon lange vor Schröder bei der Bearbeitung des flämischen Dialektes diese Streckformen entdeckt und vollauf gewürdigt hat (Schröder |3| zitiert ihn wohl, aber gibt ihm nicht die ihm allein zukommende Prioritätsehere). Und darum muss ich vorläufig bei meiner Principes S. 379 gegebenen psychologischen Erklärung beharren.
Ich weiß nicht, ob Sie mit Ihrer Erinnerung an den möglichen possessiven Reflexiv-Formen der ersten und zweiten Person, z.B. bask. neure, eure gegenüber ene, hire, meine Auffassung vom Obviativus und Subobviativus bezweifeln wollen. Wäre dies der Fall, dann möchte ich bemerken, dass ich nicht suus sondern ejus für eine vierte Person ansehe. Weiter scheint mir der reflexive Gebrauch der Possessiva nur eine stark betonte Form des einfachen ersten, zweiten und dritten Personenverhältnisses, während die 4te und 5te Person des Algonkin ein ganz neues Verhältnis, eine ganz neue Unterscheidung einführen. Mit Freude sah ich in der letzten Woche dass Uhlenbeck, der mir übrigens gleich nach Erscheinung der Anzeige schrieb, dass er gänzlich einverstanden war, nun auch in seinen Original Blackfoot texts S.V meine Terminologie übernommen hat.
Mit Ihrer Bemerkung über pjalt haben Sie unzweifelbar Recht. Denn hier gibt es gewiss keine Infigierung eines ausserhalb der Wortgruppe schon bestehenden Wortes. Und |4| nur solche Infigierungen kamen dort in Betracht. Etwas anderes aber ist es, ob unter den in manchen Sprachstämmen angeführten Infixen sich auch nicht manche solche durch Affektartikulation entstandenen Laute bzw. Lautgebilde befinden. So vermute ich es wenigstens in manchen Fällen, und darum möchte ich doch auch die genannten Mouillierungen vorläufig noch nicht grundsätzlich von den Infigierungen trennen.
Wenn Ihnen die holländische Objektincorporierung interessiert, kann ich Ihnen noch mitteilen, dass ich seitdem noch 13 neue Beispiele gefunden habe aus der älteren Sprache, die wieder alle Körperteile als Objekt zeigen. Später sah ich auch, dass schon J. te Winkel, ohne etwas von Inkorporierung zu vermuten, doch schon die Beschränkung dieser Bildungsweise auf Namen von Körperteile bemerkt hatte.
Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit
Ihr ganz ergebener
Jac. van Ginneken S.J.