Max Gillmer an Hugo Schuchardt (01-03765)

von Max Gillmer

an Hugo Schuchardt

Köthen (Sachsen-Anhalt)

03. 04. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: language Französisch Italien

Zitiervorschlag: Max Gillmer an Hugo Schuchardt (01-03765). Köthen (Sachsen-Anhalt), 03. 04. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11431, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11431.


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Cöthen (Anh.), 3. April 1917

Sehr geehrter Herr Hofrat!

Vor längerer Zeit korrespondierte ich mit Herrn Schulrat K. Prohaska dort über die Etymologie des bei Ariosto und Bojardo vorkommenden Namens „Marfisa“; allein wir gelangten in der Sache zu keinem Resultat, vielmehr verwies mich mein Korrespondent schliesslich an Sie, und ich gestatte mir daher, Ihnen die Angelegenheit mit der Bitte zu unterbreiten, mir darüber, soweit es in Ihren Kräften steht, gütigst Auskunft zu erteilen.

Die Heldin Marfisa war die Tochter Rüdigers II. von Risa (Rhegium in Unteritalien) und der Galacilla. Die Mutter selbst Heroine starb nach der Geburt des Zwillingspaares (Rüdiger III. und Marphisa) und beide Kinder wurden, da der Vater bei der Eroberung Rhegiums durch die Sarazenen gefallen war, vom Atlas erzogen. Marfisa tritt bei Bojardo ganz unmotiviert als Königin von Persien auf. Ob er stillschweigend voraussetzt, daß seine Leser wissen, ihr Grossvater Agolant, König von Afrika, habe Persien erobert, ist schwer ersichtlich. Bojardo scheint aber das 6. ungedruckte Buch der Reali di Francia, worin dieser Zug Agolantes nach Asien vorkommt, gekannt zu haben, und die Marfisa deswegen bei der Belagerung von Albrakka (dem Bojardo’schen Troja) als Königin von Persien auftreten zu lassen, weil sie ja Agolantes Enkelkind war. Ob Annahme aber zutrifft, habe ich bisher nicht feststellen können.

|2|Bojardo hat den Namen Marfisa bereits in dem zu seinen Zeiten in Italien verbreiteten Volksbuch der Reali di Francia (pseudo-turpinische Chronik) vorgefunden; es handelt sich also um keinen Phantasienamen, wenn auch die weitere Charakterisierung dieser Heldin seinem Kopfe entsprungen sein, oder er irgend ein älteres, oder zu seiner Zeit lebendes Vorbild (welches?) dabei vor Augen gehabt haben mag. Der Name muss demnach etymologisch erklärbar sein. Die französische Schreibweise isst “Marphisa”. Die Reali di Francia werden daher ältere französische Quellen gehabt haben, die mir bis dato unbekannt geblieben sind, und aus denen über die Etymologie und das erste Vorkommen dieses Namens vielleicht noch etwas zu holen sein dürfte.

Wenn Sie in der ganzen Angelegenheit irgendwo noch einen Hebel anzusetzen wissen, sei es durch Erklärung oder Litteratur-Angabe, so möchte ich Sie hiermit freundlichst darum gebeten haben.

Hochachtungsvoll

M. Gillmer.

Adresse: Prof. M. Gillmer, Cöthen (Anh.) Franzstr. 13

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03765)